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Arroganz, fehlende Klasse, Flick und Radio Müller

Die Gründe für das deutsche WM-Debakel

Video: Flick legt den Finger in die Wunde
02. Dezember 2022, 10:12

Aus. Vorbei. Heimflug. Die deutsche Nationalelf scheidet in Katar verdient aus, weil Anspruch und Wirklichkeit nicht zusammenpassen. Eine lange Mängelliste reicht von Arroganz über fehlende Klasse bin hin zu Hansi Flicks fehlendem Feuer. Und "Radio Müller" wird viel zu spät ausgeknipst.

Weltspitze Ade. Auch wenn die deutsche Nationalmannschaft im letzten WM-Gruppenspiel in einer wilden zweiten Halbzeit noch gegen Costa Rica 4:2 (1:0) gewann, ist die Mängelliste lang. Und das Ausscheiden aus dem Turnier durch Japans Sieg gegen Spanien so verdient wie blamabel. Ein mysteriöser Abend im Al-Bayt-Stadion in Al-Khor zeigte, was im DFB-Team schiefläuft: eine Menge. Darüber täuscht der Pflichtsieg über den Gegner aus Mittelamerika nicht hinweg. Ein kruder Mix aus Selbstüberhöhungen, Fehleinschätzungen und Versäumnissen führt letztendlich bei der zweiten WM in Folge zu einer verfrühten Rückkehr nach Deutschland.

Vor dem Spiel zog Hansi Flick seinen dritten Rechtsverteidiger im dritten Spiel aus dem Ärmel. Nach den Patzern von Niklas Süle und Thilo Kehrer in den Spielen gegen Japan und Spanien soll es diesmal Joshua Kimmich richten. Der vor langen Jahren zum Philipp-Lahm-Nachfolger ausgerufene Bayern-Star hatte zwar 2020 auf dieser Position mit dem FC Bayern die Champions League gewonnen, seither aber wenig Interesse an einer Rückkehr gezeigt. In den letzten Wochen jedoch war er immer wieder in die Verteidigung geschrieben worden und gegen Costa Rica stand er dann dort. Wie einst Philipp Lahm, der 2014 aus dem defensiven Mittelfeld auf die Außenverteidigerposition wanderte. Er nahm es an. Deutschland wurde Weltmeister.

Kimmich nahm es nicht an. Er konnte schon vor dem Ausscheiden seine Zeit als Rechtsverteidiger auf ein Minimum reduzieren. Nach 45 Minuten beendete Flick das Experiment mit dem gebürtigen Rottweiler und beorderte ihn dahin zurück, wo er nach eigener Denke hingehört. Weil Kimmich sich nicht als Rechtsverteidiger sieht, spielte er gegen Costa Rica auch nicht wie ein Rechtsverteidiger. Immer wieder zieht es ihn in die Mitte. Teilweise steht er links vom rechten Innenverteidiger Niklas Süle. Für die großen Räume auf dem Flügel interessiert er sich selten. Im Mittelfeld spielt er in der zweiten Halbzeit dummerweise nicht wie ein Mittelfeldspieler.

Seltsam anmutende Überheblichkeiten

Lukas Klostermann, der ihn zur Pause auf der Position ersetzt, hatte am Vortag noch die Strapazen einer Pressekonferenz auf sich nehmen müssen. Die lange Anreise aus dem Trainingscamp im Norden Katars hatte beim Spiel gegen Spanien noch als zu beschwerlich gegolten. Bundestrainer Hansi Flick fragte sich allen Ernstes, warum man sie nicht dort oben an der Spitze des Landes besuche. Es sei sehr schön dort. Das Raumschiff DFB hatte nicht mitbekommen, dass neben ihnen noch 31 Nationen an dem Turnier teilnehmen müssen. Klostermann kam also zur PK.

Vorbereitet schien er nicht. Costa Rica? Ja, Keeper Keylor Navas sei ihm schon ein Begriff. Der Rest nicht so. Eine kleine Episode. Eine, die jedoch viel über die Selbstwahrnehmung der Mannschaft sagte, die sich bei dieser WM keine neuen Freunde machte. Es war, als wäre alles eine Belästigung. Es war, als hätten die Gegner auf dem Platz nichts zu suchen. Alles seien sie, um es zu überzeichnen, unwürdig, gegen den vierfachen Weltmeister anzutreten.


Mehr dazu: Das Horror-Zeugnis des DFB-Teams


Nicht anders war auch das Verhalten von Abwehr-Boss Antonio Rüdiger zu verstehen. Er verhöhnte bereits im ersten Spiel seinen Gegenspieler im Zweikampf. Er trabte an ihm vorbei, hob seine Beine, wie zum Spott. Da stand es 1:0, wenig später drehte Japan das Spiel. Das Unheil nahm seinen Lauf. Im Spiel gegen Costa Rica der nächste Arroganzanfall. Erst lässt David Raum Keysher Fuller laufen, dann stellt sich Rüdiger ihm nicht richtig in den Weg. Nur weil Manuel Neuer seine Hände an den Ball bekam, ging es nicht mit einem 1:1 in die Pause.

Offen zur Schau gestellte Arroganz

Es ist diese teils offen zur Schau gestellte Arroganz, die den DFB seit dem Gewinn der Weltmeisterschaft umgibt und ihn zu einer der größten Lachnummern im Weltfußball hat verkommen lassen. Im Al-Bayt-Stadion stehen am Ende Spieler von Real Madrid, Bayern München, Chelsea, Borussia Dortmund, RB Leipzig und Eintracht Frankfurt auf dem Platz. Mehrfache Champions-League-Sieger sind darunter, Weltmeister und Serienmeister.

Auch deswegen hatte Hansi Flick oft und offen vom großen Ziel geredet. Doch diese Topspieler sind in ihren Vereinen oftmals keine Führungsspieler oder Säulen - oder sie spielen in Klubs, die nicht (mehr) zur Weltelite gehören. İlkay Gündogan führt Manchester City manchmal als Kapitän auf den Platz, ein echter Leader ist er in diesem Starensemble qua persona aber nicht. Kai Havertz muss beim FC Chelsea, auch wenn das Team 2021 zum Champions-League-Sieger geschossen hat, immer öfter auf der Bank Platz nehmen.


Mehr dazu: Pressestimmen zum deutschen WM-Aus


Die Münchner Profis sind für ihren FC Bayern natürlich tragende Stützen. Aber in der Bundesliga sind sie seit Jahren kaum gefordert. Und in der Champions League war seit dem Sieg 2020 immer im Viertelfinale Schluss. Für ganz oben reichte es nicht mehr, die Elite-Spiele finden ohne deutsche Beteiligung statt (beziehungsweise mit einem Toni Kroos, der nicht mehr für Deutschland aufläuft). Für die BVB-Profis gilt das erst recht.

Thomas Müller - ohne jede Bindung zum Spiel

Während seiner Zeit bei Bayern München hatte Flick aus einer auseinanderfallenden Ansammlung von Stars eine Gruppe geschaffen, die nur wenige Monate nach seinem Amtsantritt in Lissabon die Champions League gewinnen konnte. Mit der deutschen Nationalmannschaft hatte er Ähnliches vor. Zentraler Bestandteil seines Triumphs mit den Bayern war Thomas Müller, dessen Wert für das Team in den Geisterspielen der Pandemie jeder hören konnte. "Radio Müller" sendete und lieferte. Seine lautstarken Anweisungen untermalte er mit unzähligen Toren und Assists.

Genau diese Rolle als Anführer, als Co-Trainer und Scorerkönig hatte Flick für ihn nun auch beim DFB vorgesehen. Er setzte auf den ehemaligen "Raumdeuter", obwohl dieser vor dem Turnier lange verletzt war. In Katar zeigte Müller wenig, sendete noch ein wenig auf Kurzwelle, war sonst jedoch ein Fremdkörper. Mehr Knistern und Rauschen als Erfolgstöne. Ob auf der 10 wie gegen Japan oder im Sturmzentrum gegen Spanien und Costa Rica. Der Ur-Bayer passte in keine der aufgestellten Offensive, die Aktionen liefen zu schnell für ihn ab, seine Bindung zum Spiel war nie vorhanden.

Die Fans in Katar konnten den verglühenden Stern eines ehemaligen Weltstars live begleiten. "Ich habe es mit Liebe getan, alles Weitere muss ich erst mal sehen", sagte Müller nach dem Spiel. Es sei "traurig für uns alle und Deutschland", wenn Müller zurücktrete, erklärte Jamal Musiala. Doch Müllers Rücktritt nach nunmehr 121 Länderspielen und 44 Treffern ist unausweichlich. Er kommt zu spät.

Ach, die Abschlüsse ...

Musiala ist natürlich ein riesiges Talent, aber die verantwortungsvolle 10er-Position auf solch einer großen Bühne war noch zu viel für den Teenager. Seine Zeit wird kommen, Katar kam für ihn noch zu früh. Der 19-Jährige zeigte zwar herausragenden Dribblings, trennte sich aber schon gegen Japan und vor allem in der ersten Hälfte gegen Costa Rica viel zu spät vom Ball, sei es mit Pässen oder Abschlüssen.

Ach, die Abschlüsse. Einer der größten Mängel dieses Teams: der fahrlässige Umgang mit den Torchancen. In einem fort rannte sich auch gegen Costa Rica einer fest, während der Nächste neben oder über das Tor schoss. Es besagt nichts Gutes über die Offensive, dass ausgerechnet Niclas Füllkrug, ein Stürmer, der zwar viele Qualitäten mitbringt, aber eben vor einem Jahr noch in der 2. Bundesliga kickte, zu einer Art Heiland auserkoren werden muss im Laufe des Turniers.

Unisono bekannten die Spieler in den Katakomben nach dem Aus, man habe "einige Möglichkeiten liegengelassen, die wir machen müssen" (Musiala) und es sei "nicht nur Pech, sondern auch sehr viel Unvermögen, weil wir die Chancen nicht nutzen und es sehr einfach ist, gegen uns Tore zu schießen" (Kimmich).

"Mit mehr Konsequenz wäre mehr möglich gewesen"

Ebenfalls waren sich alle einig, dass man gegen die Ticos "schon mit einem 3:0 oder 4:0 in die Pause" (Jonas Hofmann) hätte gehen können, dass "mit mehr Konsequenz noch mehr möglich gewesen" (Füllkrug) wäre und damit hätte man "die Spanier unter Druck setzen können" (wieder Füllkrug). Kimmich fasste passend zusammen: "Das Japan-Spiel und das Auslassen sehr vieler Torchancen haben uns das Weiterkommen gekostet."

Nur wollten das gesamte Turnier über Flicks Methoden, die Kaltschnäuzigkeit vor dem Tor doch noch im Blitzverfahren zu erlernen, nicht greifen. Ein Turnier ist etwas anderes als eine Bundesliga-Saison und vielleicht hat der Bundestrainer nicht das Feuer, um in diesen kompakten vier Wochen das nötige Feuer bei seinen Kickern zu entfachen. Um sie auf dem Platz zum Brennen zu bringen. Zum bedingungslosen Fighten.

Und so muss sich nun auch Hansi Flick fragen, ob er noch der Richtige für diesen Job ist. Oder ob nicht aufgrund der Tragweite dieses Ausscheidens, aufgrund der langen Mängelliste, die auch er nach der Löw-Ära nicht verkürzen konnte, ein kompletter Neuanfang hermuss.

David Bedürftig & Stephan Uersfeld

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