Der BVB kassiert in den letzten Minuten des Spiels drei Tore gegen Werder Bremen? Ja. Das ist gut. Manchester United dreht das Champions-League-Finale gegen Bayern München? Stark und in den Geschichtsbüchern. Aber was sich am Wochenende in Charlton abspielt, ist der absolute Wahnsinn.
Ben Garner war schon lange nicht mehr auf seiner Trainerbank. Der Trainer von Charlton Athletic, der einst bei José Mourinho hospitierte, hatte sich einmal zu oft bei Schiedsrichter Josh Smith beschwert, der ihn dann in der 52. Minute vom Platz stellt.
Die Gäste aus Ipswich, immerhin Aufstiegsfavorit in der League One, der dritten englischen Liga, führten mit 2:0 und die 16.625 Fans im Stadion der Addicks hatten das Spiel längst abgehakt. Die Tore von Jes Rak-Sakyi and Albie Morgan änderten das. Plötzlich stand es 2:2. Immerhin einen Punkt mitnehmen. Danach sah es jetzt für Charlton aus. Auch wenn Schiedsrichter Smith noch einmal sechs Minuten obendrauf legte, hier würde nichts mehr passieren.
Das Ding war durch
Doch dann schlug Ipswich zu. Erst traf der von Sam Morsy wunderbar freigespielte Freddie Ladapo aus 18 Metern und nach allerhand Jubel und Freude und Zeitschinderei gelang Morsy ein weiterer Treffer. 4:2 für die Gäste und keine Minute der Nachspielzeit mehr zu spielen. Das Ding war, wie ZDF-Mann Jochen Breyer einst dem damaligen BVB-Trainer Jürgen Klopp mitteilte, durch. Hier würde nichts mehr passieren.
Doch dann geschah etwas. Nur noch zehn Sekunden waren auf der Uhr als ein Freistoß aus dem Halbfeld in den Strafraum von Ipswich segelte, länger und länger wurde und irgendwie den Weg zu Verteidiger Terrell Thomas fand. Der drückte den Ball über die Linie. Immerhin 3:4. Nicht ganz so schlimm.
Ipswich rennt noch einmal an. Aber Morsy wird mit einer unfassbaren Grätsche im Charlton-Strafraum gestoppt. Da sind 97 Minuten und 42 Sekunden gespielt. Das Ende! Das muss es doch sein. Natürlich nicht. Charlton warf alles nach vorne. In der dritten Minute der Nachspielzeit der eigentlichen Nachspielzeit stieg der 24-jährige George Dobson in die Luft. Der hatte bis dahin eine Karriere, die ihn immer weiter hinab geführt hatte.
"Ich liebe euch alle!"
Aus der Arsenal-Jugend stammend, später bei West Ham in der Reserve spielend, hatte der defensive Mittelfeldmann im Sommer 2021 bei Charlton angeheuert und dabei seinen Ruf als solider Spieler ohne Ambitionen auf eigene Tore zementiert. Fünf Treffer hatte er bis dahin erzielt und jetzt stieg er hoch, erwischte den Ball mit dem Kopf. Christian Walton im Tor von Ipswich war chancenlos. Die Kugel fiel über ihn hinweg ins Tor. 4:4! Vier Treffer in der Nachspielzeit.
"Wir sind natürlich alle frustriert, wütend und enttäuscht über die Art und Weise, wie wir die Tore kassiert haben", zuckte Ipswich-Trainer Kieran McKenna später bei "BBC Radio Suffolk" mit den Schultern: "Wir haben nach dem 2:2 großen Charakter gezeigt. Nach 96 Minuten waren wir in einer Position, in der wir das Spiel hätten gewinnen müssen."
Ben Garner, der das Spiel nach seinem Platzverweis auf dem Fernseher in seiner Kabine verfolgt hatte, musste man sich hingegen als sehr glücklichen Menschen vorstellen. "Ich bin so stolz auf die Spieler", sagte er. "Einmal nach zwei Toren Rückstand zurückkommen, das allein ist schon erstaunlich. Es aber im selben Spiel zweimal zu schaffen und einmal sogar in der Nachspielzeit, zeigt den Charakter und den Teamgeist, der hier gerade wächst." Auf der Vereinswebseite fügte er hinzu: "Ich liebe euch alle!"