Werder Bremens erster Abstieg aus der Bundesliga seit 40 Jahren stand eigentlich schon fest. Trainer Kohfeldt, die Bosse und die Mannschaft machen die komplette Saison über dieselben Fehler. Dank Heilsbringer Niclas Füllkrug hat der SVW nun zwei weitere letzte Chancen.
Sucht man nach Fotos eines frustrierten Florian Kohfeldts, die sinnbildlich für das Seuchenjahr 2019/20 an der Weser stehen, ist es nicht leicht, sich für eines zu entscheiden. Es gibt zu viele Bilder, auf denen der Bremer Trainer die Hände über dem Kopf zusammenschlägt, sie verbittert vors betrübte Gesicht hält oder mit ihnen deprimiert abwinkt.
Der Cocktail der Kohfeldt'schen Frustrationsfotos verdeutlicht: Werder Bremen spielte dieses Jahr von Anfang an wie ein Absteiger, weil trotz Mühe und Kampf eklatante Fehler in Offensive wie Defensive die komplette Saison über nicht abgestellt wurden.
Werders Abstieg war eigentlich vorprogrammiert. Aber am 34. Spieltag rettete sich der SVW in atemberaubender Manier und hat nun in der Relegation gegen den FC Heidenheim (20:30 Uhr) die Chance, die Liga doch noch zu halten - was vor allem am genesenen Torjäger Niclas Füllkrug liegt, der nicht nur selber trifft, sondern die Spieler um sich herum stärker macht.
Werder hatte schon immer große Stürmer und Offensivspieler: von Rudi Völler und Frank Neubarth über Andreas Herzog und Ailton bis hin zu Diego und Miroslav Klose. Gerne ließ man hinten mal einen rein, um vorne ein Tor mehr zu machen. Der beste Torjäger der Vereinsgeschichte steht sogar noch in den Reihen der Bremer.
Aber Claudio Pizarro ist in seinem Abschiedsjahr noch keine einzige Torbeteiligung gelungen. Und so fehlte in dieser Saison die Durchschlagskraft im gegnerischen Sechszehner komplett. Immer wieder spielte sich Werder gute Chancen heraus, nur um dann im Abschluss kläglich zu versagen.
Alle treffen, wenn Füllkrug spielt
Immer öfter gelang vorne gar kein Treffer, weil Kohfeldt defensiver spielen ließ - und weil Bremen eben genau fehlte, was sie sonst über Dekaden ausgemacht hatte: der Torjäger. Stürmer Nummer eins, Füllkrug, fiel nach vier Spieltagen mit einem Kreuzbandriss aus. Zuvor hatte er in seinen ersten drei Spielen von Beginn an zwei Treffer erzielt und eine Vorlage gegeben. Zwei dieser Partien gewann Werder.
Auch die Kreativität im Mittelfeld litt unter dem Wegfall des einzigen Top-Stürmers im Kader, denn die anderen Angreifer - ob nun Joshua Sargent, Johannes Eggestein oder später Davie Selke - bringen (noch) nicht dieselbe Qualität und Anspiel- und Kombinationsmöglichkeiten auf den Platz.
Als Kreativgeist war in dieser Saison Yuya Osako gefordert. Allerdings war der Japaner fast die kompletten Saison ein Totalausfall. Jedoch scheint der Japaner durch Füllkrug Leben eingehaucht zu bekommen. In den letzten vier Spielen der Saison, in denen Bremens Strafraumstürmer wieder auf dem Platz stand, erzielte Osako vier Tore und gab eine Vorlage. Denn Füllkrug fungiert auch als Motivator, durch seine Präsenz auf dem Platz und seine lautstarke Art, die Werder in der kompletten Saison gefehlt hatten.
Osako schoss diese Spielzeit noch vier weitere Tore, drei davon in den ersten vier Partien, bis Füllkrug verletzt ausfiel. Genauso erging es Davy Klaassen: Vier seiner sieben Saisontreffer erzielte er in den acht Füllkrug-Spielen. Und auch Sargent markierte die Hälfte seiner Saisontore in den wenigen Partien, in denen sein Sturmpartner vor oder mit ihm auf dem Platz stand.
Füllkrug trifft alle 100 Minuten
Füllkrug selbst hätte Werder wohl schon vorher vor dem Abstieg gerettet, wäre er nicht so verletzungsanfällig. In nur acht Saisonspielen schoss er vier Tore und gab eine Vorlage. Lediglich in drei dieser Partien spielte er über mehr als 45 Minuten. Alle hundert Minuten trifft der Torjäger also, eine Topquote. Mit ihm sammelte Bremen anderthalb Punkte pro Spiel. Auf die Saison hochgerechnet wären das 51 gewesen - damit hätte der SVW sich vor dem VfL Wolfsburg für Europa qualifiziert.
Allein: Füllkrugs Kreuzbandriss - und die peinlichen Abwehrfehler blieben. So schlitterte Werder in der Hinrunde gen Abstiegszone und überwinterte auf dem Relegationsplatz. Die richtigen Reaktionen in Führungsetage, Trainerstab und Mannschaft fielen erneut aus. Die Werder-Bosse begangen auch den Fehler, über einen Trainerwechsel gar nicht erst nachdenken zu wollen.
Mehr dazu: Wiese knallhart: Werder muss den Trainer austauschen
Unumstößlich hielten sie an Kohfeldt Niederlage um Niederlage fest. Zwar ist den Bremern dieses für den Profifußball fast schon romantisierende Vertrauen und das Abzielen auf Konstanz hoch anzurechnen, denn genau dafür lieben die Fans ihren Verein. Allerdings war das Nichtstun gefährlich - und könnte Werder immer noch um Jahre zurückwerfen, sollte die Relegation gegen den FC Heidenheim in die Hose gehen.
Weil die Option eines Trainerwechsels niemals auf dem Tisch lag, konnte Kohfeldt mit seinem Plan, der ohne Stoßstürmer Füllkrug offensichtlich nicht funktionierte, immer weiter machen - und musste sich und seine Entscheidungen nicht ganz so hundertprozentig hinterfragen, als wenn er auf der Kippe gestanden hätte.
So waren etwa die Wintereinkäufe, die die Bosse und der Trainer tätigten, nicht wirklich durchdacht. Selke, der 2015 als eines der größten Bundesliga-Talente von der Weser zu RB Leipzig gewechselt war, traf diese Saison in 19 Spielen für Hertha BSC nur ein einziges Mal und für Werder im Anschluss gar nicht. Die nach unten zeigende Formkurve war über Jahre deutlich zu erkennen.
Relegationstrauma beenden
Nun, Coach Kohfeldt durfte bleiben und kann gegen Heidenheim den Kopf noch mal aus der Schlinge ziehen. Auf die Frage, ob Füllkrug wie gegen Köln wieder von Beginn an spielt, antwortet er vor der Partie: "Ich weiß es schon, werde es aber noch nicht verraten." Dass der treffsichere Stürmer, Motivator und Nebenspieler-Bessermacher gegen Heidenheim nicht startet, glaubt allerdings kaum jemand. Allerdings bringt der Torjäger nicht nur Gefahr für den gegnerischen Strafraum in die Relegation mit, sondern auch eine unrühmliche Serie.
In der Saison 2013/14 verpasste er in den Playoffs mit Greuther Fürth den Aufstieg gegen den Hamburger SV und zwei Jahre später passierte ihm mit dem 1. FC Nürnberg das gleiche Missgeschick gegen Eintracht Frankfurt. "Eigentlich dürfte ich ihn nicht mit in den Kader nehmen", witzelte Kohfeldt dementsprechend.
Aber auf Füllkrugs Tore wird an der Weser niemand verzichten wollen. Vor allem, weil neben seinen Treffern und denen der Mitspieler auch eine weitere Statistik den Bremern Hoffnung macht: Die letzten vier Duelle gegen Heidenheim hat er alle gewonnen. Möglichst zwei weitere Siege will er nun draufpacken, um das Relegationstrauma hinter sich zu lassen - und damit alle in Bremen das Seuchenjahr abhaken können.
David Bedürftig

























