Die Schach-Welt blickt in diesen Tagen gespannt nach Singapur, wo Weltmeister Ding Liren und Herausforderer Dommaraju Gukesh ab dem 25. November um die Weltmeisterschaft kämpfen. Im Vorfeld gibt es kaum jemanden, der auf einen Sieg des amtierenden Titelträgers setzt. Manch einer wünscht sich gar eine Niederlage des Chinesen.
Eines lässt sich schon vor dem Beginn der Schach-Weltmeisterschaft 2024 sagen: Titelträger Ding Liren war nicht der Botschafter, den sich der Weltverband FIDE, die großen Online-Schach-Plattformen und die anderen prominenten Spieler der Szene gewünscht hatten.
Der 32-Jährige konnte oder wollte diese Rolle nicht einnehmen. Monatelang verschwand er nach seinem Sieg im April 2023 von der Bildfläche. Dann tauchte er als Spieler wieder auf, dessen Spiel nichts Weltmeisterliches mehr hatte. Ding gewann nur noch vereinzelte Partien und verlor viele, die er niemals hätte verlieren dürfen. Der Chinese vermittelte nicht nur den Eindruck, er hätte den Spaß am Schach verloren, er gab das sogar öffentlich zu.
Immerhin gibt es Licht am Ende des Tunnels: Die Bürde des WM-Titels dürfte Ding schon in wenigen Tagen los sein. Im Duell gegen das indische Wunderkind Dommaraju Gukesh ist der Titelträger der klare Außenseiter. Selten gab es vor einer WM-Partie (ab 25. November im sport.de Live-Ticker) in der jüngeren Vergangenheit eine klarere Verteilung der Rollen. Einen Sieg traut Ding kaum jemand in der Szene zu.
Magnus Carlsen sieht lediglich eine Chance für Ding
"Ich sehe nicht, dass es ein enges Match wird. Ich denke, dass alle Zeichen auf einen klaren und dominanten Gukesh-Sieg hindeuten", sagte etwa US-Großmeister Hikaru Nakamura vor wenigen Wochen im "ChessBase India"-Interview. Auch Magnus Carlsen sieht den Inder vorn. Die fehlende Erfahrung des 18-Jährigen ist in den Augen des Norwegers der einzige Punkt, der für Ding spricht.
"Wenn Gukesh zuerst zuschlägt, wird er das Match ohne Schwierigkeiten gewinnen. Je länger es ohne entscheidende Partie geht, desto besser ist es für Ding, weil er die Fähigkeiten hat. Ihm fehlt nur das Selbstbewusstsein. Alles, das ihm das zurückbringen kann, macht es wahrscheinlicher, dass er das Match gewinnen kann", erklärte der Norweger, dass Ding sich gerade in den ersten Partien irgendwie über die Runden retten muss.
Der US-Amerikaner Wesley So glaubt allerdings nicht, dass Ding dies schaffen wird. Er rechnet ebenfalls mit einer deutlichen Niederlage des Weltmeisters. "Ich habe mit vielen Großmeistern gesprochen. Sie alle glauben nicht, dass es in dem Match 14 Partien geben wird. Am Ende wird der mit dem höheren Rating gewinnen."
Der Spieler mit dem höheren Rating ist Gukesh. Er steht mit einem Elo-Rating von 2783 Punkten derzeit auf Platz fünf der Weltrangliste, Ding wird mit 2728 Zählern nur auf Rang 23 geführt.
Kasparov: Die Schach-WM ist keine WM mehr
Der Blick auf die Weltrangliste offenbart ein weiteres Problem des nun anstehenden WM-Duells. Zwar darf sich der Sieger anschließend Weltmeister nennen, der beste Spieler der Welt ist und bleibt aber Magnus Carlsen. Das stand und steht nicht zur Diskussion. Das wirft die Frage nach dem Wert des WM-Titels auf.
"Meine ehrliche Meinung: Für mich ist es keine Weltmeisterschaft. Für mich war das immer ein Spiel zwischen den beiden besten Spielern der Welt. Die Geschichte der WM-Matches begann 1886 mit Steinitz gegen Zukertort und endete mit Magnus Carlsen", sagte Legende Garry Kasparov, der die heutige WM zwar immer noch als "wichtiges Event" bezeichnet, aber dennoch eine Veränderung für die Zukunft fordert und eine Grundsatzfrage stellt.
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Das Schach-Spiel habe sich so rasant entwickelt, dass es ein Fehler sei, auf ein "antiquiertes Qualifikations-System zu setzen, in dem es 18 Monate oder länger dauert, um einen Herausforderer zu suchen. Das ist nicht mehr angemessen", erklärte der frühere Weltmeister und für viele bis heute beste Spieler aller Zeiten - neben Magnus Carlsen.
Was das Duell zwischen Ding und Gukesh angeht, so hat auch Kasparov einen klaren Favoriten. "So wie Ding zuletzt gespielt hat, ist er nur noch ein Schatten des alten Dings. Nur wenn er sich wie durch ein Wunder erholen kann, wird es ein interessanter Kampf. Aber wie auch immer: Es ist ein Match, das mit der ursprünglichen Idee der Weltmeisterschaft, den besten Spieler des Planeten zu finden, nichts zu tun hat."
Bekommt die Schach-Welt den "besseren" Weltmeister?
Was für so ziemlich jeden Betroffenen außer Frage steht: Gukesh wäre für den Sport der deutlich "bessere" Weltmeister. Vor allem, weil Ding der denkbar schlechteste war.
"Ich wäre wahrscheinlich mehr als enttäuscht, wenn er [Gukesh] nicht gewinnt, weil ich, wenn ich auf die Schach-Geschichte blicke, keinen Vorteil bei einem Sieg von Ding erkenne. Schach in Indien ist dagegen ein heißes Thema. Wenn Gukesh gewinnt, wird es nur noch größer werden", sagte Nakamura mit Blick auf einen neuen Schach-Boom, der den gesamte Sport beflügeln könnte und den Ding nicht auslösen konnte - oder wollte.





