Amanal Petros ist Deutschlands Rekordhalter auf gleich drei Distanzen. Bei der Leichtathletik-EM 2024 in Rom (7. bis 12. Juni) nimmt der 29-Jährige eine Medaille im Halbmarathon in Angriff.
Kurz vor seiner Abreise aus dem Trainingslager im kenianischen Läuferparadies Iten hat der Langstreckenläufer im Interview mit sport.de über seine minutiöse Vorbereitung, einen Besuch von Moderator Kai Pflaume und Ex-Profiläufer Philipp Pflieger sowie seine Ziele in Rom und bei den Olympischen Spielen in Paris gesprochen.
Herr Petros, am Sonntag starten Sie bei der Leichtathletik-Europameisterschaft in Rom im Halbmarathon. Und trotzdem sind Sie noch in Kenia im Trainingslager. Trainieren Sie noch immer?
Amanal Petros: "Genau, ich trainiere bis zur letzten Sekunde. Ich bereite mich seit Januar schon für Olympia vor und bin in der Vorbereitung den Hannover-Marathon (mit Streckenrekord in 2:06:05h, Anm. d. Red.) und die zehn Kilometer in Herzogenaurach (in 27:42 min) gelaufen. Ich bin absolut bereit, habe fleißig trainiert und freue mich."
Wie viele Kilometer reißen Sie so kurz vor der EM denn noch ab? Gehen Sie da bis zum Schluss in die Vollen oder kommt es auch auf den Faktor Regeneration an?
"Mein Training wird kurz vor einem Wettkampf immer etwas weniger. Es fängt bei ungefähr 220 Kilometern pro Woche an, dann geht es runter auf 210 und 200. Letzte Woche habe ich 160 Kilometer gemacht, ich brauche die Regeneration."
Sie trainieren gerade in Iten, dem "Paradies für Langstreckenläufer", oder?
"Ja, ich bin jetzt in Iten, man nennt es auch 'The Home of Champions', weil alle Profiathleten der ganzen Welt hier trainieren, von 5000-Meter- bis hin zu Marathon-Läufern. Dafür ist Iten sehr bekannt. Es liegt auf 2500 Metern Höhe, ich trainiere sehr gerne hier."
"Kai Pflaume hat hier vor Ort erfahren, wie ich trainiere"
Sie sind mehrfach im Jahr vor Ort, zuletzt bekamen Sie Besuch aus Deutschland, als Moderator und Hobby-Langstreckenläufer Kai Pflaume zusammen mit dem ehemaligen Profi Philipp Pflieger da waren. Wie war das?
"Das war richtig gut. Philipp Pflieger war schon öfters bei mir im Trainingslager. Dass Kai Pflaume jetzt dabei war, hat mich sehr gefreut.
Er hatte niemals geglaubt, was wir hier tun. Viele Leute können das nicht glauben, was wir leisten. Sie sehen, dass Amanal Petros dreifacher deutscher Rekordhalter ist, auf zehn Kilometern (27:32 min, Anm. d. Red.), im Halbmarathon (1:00:09 h) und Marathon (2:04:58 h). Aber wie geht das? Vor zwei Jahren bin ich den Marathon in 2:10 Stunden gelaufen, jetzt in 2:04 Stunden. Die können das nicht glauben. Kai Pflaume hat hier vor Ort erfahren, wie ich morgens und nachmittags trainiere. Es gibt nichts anderes als Training, essen und schlafen. Das ist kein Hobby, sondern Arbeit. Es ist nicht leicht und nicht unbedingt gesund, aber es ist unser Job. Ich habe großen Respekt vor allen Athleten, die hier trainieren."
Sie sprechen die schweren Momente in der Vorbereitung an. Im YouTube-Video sieht man Sie dennoch immer lachen. Wie schaffen Sie es, stets positiv zu bleiben?
"220 Kilometer pro Woche zu laufen ist kein Spaß. Und trotzdem muss man am Ende des Tages positiv denken. Du musst eine Strategie finden, um dich zu regenerieren und um Spaß zu haben, auch wenn es sehr anstrengend und fies ist. Marathon ist nicht wie 3000 oder 5000 Meter, wo du dich drei Monate vorbereitest und drei Tage später kannst du das wiederholen. Beim Marathon trainierst du drei oder vier Monate und manchmal klappt es nicht, aus unterschiedlichen Gründen, zum Beispiel wegen einer Verletzung oder Krankheit.
Man muss nur darüber nachdenken, was man als Marathonläufer zu verlieren hat, etwa die ganze finanzielle Seite. Aber auch mental ist es schwer, man verliert Zeit, die man mit der Familie verbringen wollte. Es kostet sehr viel Energie, viele geben auf. Es ist nicht einfach für den Kopf, auf 2500 Metern in einer Einheit 35 bis 40 Kilometer zu trainieren. Man muss als Profiläufer unglaublich viele Dinge im mentalen Bereich lernen und viel Erfahrung sammeln. Nur so kannst du stark sein. Ich trainiere hier mit vielen starken Profis, wir bringen uns gegenseitig weiter. Das macht auch Spaß. Man ist aber immer froh, wenn man die harten Einheiten hinter sich hat und ins Bett kann."
Olympia-Start neben dem Idol, EM-Medaille als Ziel
Sie sind als Jugendlicher vor dem Krieg geflüchtet, inzwischen sind Sie Profisportler und dreifacher deutscher Rekordhalter: Haben Sie sich diese Entwicklung als Kind in irgendeiner Weise erträumt?
"Ich bin aus Äthiopien geflüchtet, da bin ich aufgewachsen. Die Wurzeln meiner Familie liegen in Tigray, wo seit Jahren Krieg ist. Ich bin in einem Dorf groß geworden und jeden Tag fünf oder sechs Kilometer zur Schule gelaufen. Ab und zu war ich in der Stadt, da gab es einen kleinen Fernseher. Da habe ich zum Beispiel Kenenisa Bekele (vierfacher Olympiasieger auf 5000 und 10.000 Metern, Anm. d. Red.) gesehen, wie er bei den Weltmeisterschaften gewonnen hat. Das war ein Traum für mich. Und jetzt starte ich neben Kenenisa Bekele in Paris, meine Mutter wollte mir das erst nicht glauben. Als Kind konnte ich ihn im Fernseher kaum sehen, weil der so klein war im Dorf und so viele Leute davorstanden. Jetzt stehe ich direkt neben ihm. Das habe ich mir nie vorstellen können."
Kommen wir zur EM in Rom, dem ersten der beiden Highlights in diesem Sommer. Dort laufen Sie am Sonntag einen Halbmarathon, weil wenige Wochen danach der Marathon in Paris ansteht. Was ist Ihr Ziel? Können Sie womöglich eine Bestzeit und unter einer Stunde laufen? Oder wird das wegen der Streckenbedingungen und der Hitze gar nicht möglich sein?
"Ich habe gerade gesehen, dass es 30 Grad werden, das ist natürlich schwer. Aber es kann wirklich alles passieren. Meistens sind Meisterschaften taktisch, aber es kann auch sehr schnell werden. Ich muss einfach ganz in Ruhe auf jede Situation reagieren und bereit sein, jederzeit anzugreifen. Das Ziel ist natürlich eine Medaille. Ich werde mein Bestes geben, unter den Top 3 zu sein."
Mit Richard Ringer haben Sie den amtierenden Marathon-Europameister in den eigenen Reihen. Besteht die Chance, in der Mannschaftswertung ganz vorne mit dabei sein zu können?
"Ja, absolut. Er ist sehr stark, auch Samuel Fitwi ist da, Simon Boch ist sehr stark. Wir freuen uns. Letztes Mal haben wir eine Medaille geholt (Marathon-Silber in München 2022, Anm. d. Red.) und dieses Mal werden wir vom Anfang bis zum Ende angreifen, um eine Medaille zu bekommen."
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In Rom werden Sie im historischen Zentrum starten, an Sehenswürdigkeiten wie der Engelsburg und dem Petersdom vorbei. Dann laufen Sie einige Runden am Tiber entlang, ehe es zum Zieleinlauf ins Olympiastadion geht. Befassen Sie sich im Vorfeld mit der Streckenführung?
"Generell schaue ich mir nie gerne die Strecken an. Ich weiß, dass Rom eine sehr schöne Stadt und der Wettkampf cool ist. Aber wie die Strecke ist, weiß ich nicht. Ich lasse mich überraschen."
Nach Rom ist vor Paris. Mit den Olympischen Spielen haben Sie noch eine Rechnung offen. Kurz vor den Spielen in Tokio, die ja aufgrund der Corona-Pandemie verschoben werden mussten, hatten Sie einen Unfall und konnten kaum trainieren. Am Ende landeten Sie auf dem 30. Platz. Was ist nun Ihr Ziel?
"Das Gute ist bei mir: Egal wann, egal wo, egal wer dabei ist, ich will immer vorne mitlaufen, um eine Medaille zu gewinnen. Auch, wenn ich mich noch nicht mit den Weltmeistern oder Weltrekordhaltern vergleichen kann. Ich gebe alles, was ich habe. Wenn es klappt, ist es super. Wenn nicht, habe ich Erfahrung gesammelt. Top 8 wäre das Beste, das könnte ich mir gut vorstellen. Ich lasse mich, und euch, überraschen."
Das Gespräch führte Gerrit Kleiböhmer

