Riad, Saudi-Arabien, 18. Mai 2024: Tyson Fury gegen Oleksandr Usyk – ungeschlagener WBC-Champion gegen ungeschlagenen WBA/WBO/IBF-Weltmeister. Die Boxwelt bekommt den Kampf, den sie lange herbeigesehnt hat. Wer steigt als Favorit in den Ring? sport.de stellt die Rivalen in zwölf Kategorien gegenüber.
Zum ersten Mal seit Lennox Lewis vor einem Vierteljahrhundert wird die Schwergewichtskrone wieder vereint, der unumstrittene König aller Box-Klassen gekrönt. Fury oder Usyk - wer hat im Duell um die Lewis-Nachfolge die besseren Karten?
sport.de macht den großen 12-Runden-Check: Von der Physis über die Schlaghärte bis hin zu den viel zitierten "Nehmerqualitäten". Der Sieger einer Runde bekommt – wie am Samstagabend von den Punktrichtern – 10, der Verlierer 9 Punkte. Sind keine Vorteile auszumachen, wird remis gewertet.
RUNDE 1: Physis
Von der absurden "Ära" des russischen Riesen Nikolay Valuev abgesehen, muss man im Box-Geschichtsbuch bis ins Jahr 1934 zurückblättern, um ein ähnliches David-gegen-Goliath-Duell zu finden wie Fury vs. Usyk. Damals punktete der 122 Kilo schwere und fast zwei Meter große Primo Carnera Halbschwergewichts-Champion Tommy Loughran (1,82 Meter, 84 Kilo) aus. Fury (2,06 Meter) überragt Usyk um 16 Zentimeter, ist mit seinen 118,8 Kilogramm Kampfgewicht zudem rund 18 Kilo schwerer als sein Kontrahent. Zudem hat der "Gypsy King" wesentlich längere Arme.
10:9 FÜR FURY
RUNDE 2: Erfahrung
Sowohl Fury als auch Usyk boxen seit Jugendtagen, beide können aus einem reichen Erfahrungsschatz schöpfen. Der Engländer stand mit Hall-of-Famer Wladimir Klitschko und gleich dreimal mit K.o.-Knipser Deontay Wilder im Ring, hat zwischen den Seilen eigentlich schon alles erlebt – Bodenbesuche inklusive.
Usyk hat 350 Amateur-Kämpfe auf dem Buckel, schlug nach seinem Einstieg bei den Profis in kurzer Zeit im Cruisergewicht jeden Gegner von Rang und Namen. Der Olympiasieger von 2012 machte sich als "Road Warrior" einen Namen. All seine WM-Titel gewann Usyk im "Backyard" des Gegners, 2021 entzauberte er in London den physisch klar überlegenen Anthony Joshua. Unterm Strich stehen in puncto Erfahrung für keinen der Boxer wirkliche Vorteile.
Mehr dazu:
10:10
RUNDE 3: Schlaghärte
Usyk ist kein K.o.-Schläger, auch wenn er den Briten Tony Bellew einst krachend von den Beinen holte und auch Joshua ins Wanken brachte. Fury reklamiert für sich, seit seiner Zusammenarbeit mit Kronk-Coach Sugar Hill Steward an Power zugelegt zu haben. Die Bilanz gibt ihm Recht: Vier seiner letzten fünf Kämpfe gewann der 2,06-Meter-Riese vorzeitig. Zwar gilt auch Fury nicht als "One-Punch-Knockouter" – auch dank seiner Masse hat er aber den härteren Schlag.
10:9 FÜR FURY
RUNDE 4: Defensive
Fury versteht es meisterhaft, einen Gegner auf Distanz zu halten. Rücken ihm die Gegner doch einmal auf die Pelle, verlässt sich der WBC-Champion auf seine exzellenten Meidbewegungen im Oberkörper, von denen Tom Schwarz wohl heute noch schwindlig ist. Außerdem weiß Fury ganz genau, wann er klammern muss, um Gefahr für Rippen und Kinn abzuwenden. Für die meisten seiner Gegner ist der "Gypsy King" kaum zu treffen, es sei denn, Fury agiert zu nachlässig.
Usyk reüssiert defensiv mit seiner vorzüglichen Beinarbeit. Dank schneller Sidesteps verschwindet er aus dem Trefferradar, zudem erkennt der Ukrainer Aktionen seiner Gegner oft schon im Ansatz und reagiert entsprechend. Wird es doch brenzlig, steht immer noch die solide Doppeldeckung des Ukrainers.
10:10
RUNDE 5: Führhand
Der wohl wichtigste Schlag im Boxen. Mit dem Jab geben die Boxer den Takt vor, kontrollieren die Distanz und bereiten ihre schweren Hämmer vor. Fury schlägt eine schnelle Führhand, die als "flicking Jab" des Öfteren ohne große Power den Weg ins Gesicht des Gegners findet, um diesen aus dem Tritt zu bringen. In den Duellen mit Wilder präsentierte er zudem eine vorschlaghammerartige Linke, die dem Amerikaner über die Runden schwer zusetzte.
Usyk schlägt einen exzellenten rechten Jab, der vielen Normalauslegern das Leben schwer macht. Die Führhand ist der Schlüsselschlag im Box-Konzept der "Katze". Sie dient Usyk als Fühler, um sich in die richtige Distanz zu schieben, gegen seine oft größeren Gegner tut er das nicht selten mit "Double"- oder gar "Triple"-Jabs. Gegen Joshua überzeugte Usyk außerdem mit einer von unten nach oben gezogenen Führhand, die "AJ" ins Gesicht stach – schmerzhaft. Die besondere Waffe "Southpaw-Jab" gibt hier den Ausschlag zugunsten von Usyk.
10:9 FÜR USYK
RUNDE 6: Variabilität
Beide Kämpfer haben das gesamte Schlagarsenal drauf und sind auch taktisch variabel. Fury wie Usyk wissen, wie man einen Kampf im Vorwärtsgang mit kontrollierter Offensive oder im Rückwärtsgang mittels Konterattacken beherrscht. Beide Boxer glänzen mit Finten und sind in der Lage, schnelle Salven abzufeuern. Für Fury spricht, dass er sowohl in Normal- als auch Rechtsauslage boxen kann. Ein Alleinstellungsmerkmal, das ihm in puncto Variabilität einen kleinen Vorteil verschafft.
10:9 FÜR FURY
RUNDE 7: Beinarbeit
Fury bewegt sich für einen Mann seiner Ma(ß)sse äußert schnell und geschmeidig. Mit seinen fixen Auslagenwechseln verwirrt der 35 Jahre alte Mann aus Manchester die Konkurrenz. Die Beinarbeit ist allerdings die Usyk-Domäne schlechthin. Der 37-Jährige ist praktisch die Schwergewichts-Version seines Landsmanns Vassiliy Lomachenko. Wie der "Matrix"-Boxer im Leichtgewicht schwirrt auch er um seine Gegner, kreiert unerwartete Winkel, aus denen er seine schnellen Hände abfeuert.
10:9 FÜR USYK
RUNDE 8: KONDITION
Usyk ist für sein extrem hartes Trainings-Regime berüchtigt, kann Tempo bolzen ohne Ende. Oft legt der Ukrainer in den "Championship Rounds" nochmals eine Schippe drauf, während sein Gegenüber (wie zum Beispiel zweimal Joshua) aus dem letzten Loch pfeift. Im Schwergewicht tritt Usyk zwar etwas dosierter auf, kann dank seiner Ausdauer aber deutlich mehr schlagen als die meisten anderen Schwergewichtler.
Fury hatte in seinen wichtigen Kämpfen bisher noch nie konditionelle Probleme, verlässt sich auf sein nach eigener Aussage außergewöhnliches Lungenvolumen. Auf Social-Media-Fotos präsentiert sich der Brite ungewöhnlich austrainiert. Einmal mehr hat Fury eine zehrende, mehrmonatige Abspeck-Einheit hinter sich.
10:9 FÜR USYK
RUNDE 9: GESCHWINDIGKEIT
Der 120-Kilo-Koloss Fury wird in puncto Geschwindigkeit oft unterschätzt. Dabei schlägt der "Gypsy King" nicht nur fix zu, er bewegt sich auf seinen langen Stelzen auch erstaunlich flott. Naturgemäß liegt der Speed-Vorteil aber beim kleineren Mann. Wohl kein Schwergewichtler der Welt schlägt zurzeit so schnelle Hände wie Usyk. Dem einstigen Cruisergewichts-Herrscher ist es gelungen, einen Großteil seiner Geschwindigkeit in die Königsklasse "mitzunehmen".
10:9 FÜR USYK
RUNDE 10: Psyche
Fury hält sich für einen Meister der psychologischen Kriegsführung. Bis heute schwört er, seinem späteren Kontrahenten Wladimir Klitschko schon Jahre vor dem Kampf der beiden einen entscheidenden mentalen Nadelstich versetzt zu haben – bei einem Wer-kann-länger-in-der-Saune-durchhalten-Wettstreit. Tatsächlich gelang es dem stets am Rande des (kalkulierten?) Wahnsinns operierenden Fury schon oft, in den Kopf seines Gegners zu gelangen.
An Usyk aber prallen Psycho-Mätzchen jeglicher Art ab. Der Ukrainer ruht in sich, ist ein äußerst gefestigter Mensch, den so schnell nichts aus der Ruhe bringt. Mit seiner ulkigen Art geht Usyk seiner Kundschaft vielmehr oft selbst auf die Nerven.
10:10
RUNDE 11: Nehmerfähigkeiten
Nehmen ist im Schwergewicht mindestens genauso selig wie geben. Nur wer auch einstecken kann, schafft es in der Klasse, in der – Achtung Binse – jeder Schlag das Ende sein kann, auf den Thron. Obwohl in seiner Karriere schon mehrfach am Boden, hat Fury vor allem gegen den ausgewiesenen K.o.-Experten Wilder bewiesen, dass er härteste Geschosse verkraften und zurückkommen kann. Usyk war in seiner Profilaufbahn noch nie am Boden, steckte auch die Fäuste, die ihm Joshua einschenkte, unbeeindruckt weg. Anfällig wirkt der Edeltechniker dagegen bei Körpertreffern.
10:9 FÜR FURY
RUNDE 12: Ring-Dominanz
Wer beherrscht die Ringmitte? Wer trifft, ohne getroffen zu werden? Wer gibt das Tempo vor und kontrolliert die Distanz. Wer hat, was die Amerikaner "Ring Generalship" nennen? Mit Blick auf die bisherigen Karrieren der Wembley-Kontrahenten lässt sich konstatieren: beide.
Usyk ist ein Meister des Distanzgefühls, dank seines Amateur-Hintergrunds fließen seine Aktionen selbstverständlich. Da dies aber auch für Fury gilt, rückt eine andere Frage in den Vordergrund: Wer kann dem Rivalen im Ring den eigenen Stil und, wenn es kracht, den eigenen Willen aufzwingen? Nun, auch das haben die ungeschlagenen Weltmeister schon bewiesen.
10:10
FAZIT
Vier Runden für Fury, vier für Usyk, vier Durchgänge remis: Auf der sport.de-Scorecard steht nach zwölf Durchgängen ein 116:116. Wie schwer wiegen die jeweiligen Vorteile der Kämpfer? Am Ende könnten Furys glasklaren körperlichen Vorteile den Unterschied machen. "Ein guter großer Boxer schlägt einen guten kleinen", lautet die alte Boxweisheit. Quot esset demonstrandum – was zu beweisen wäre. Am 18. Mai sind wir schlauer.
Martin Armbruster




