Seit dem 4. November 2023 hat Deutschland wieder einen Boxweltmeister. Noel Mikaelian eroberte in Miami durch einen Sieg gegen Ilunga Makabu den WBC-Titel im Cruisergewicht. Als erster Deutscher seit Max Schmeling vor mehr als 90 Jahren krönte sich der 33-Jährige in Amerika zum Champion. Im exklusiven Interview mit RTL Nord und sport.de spricht Mikaelian über den Triumph, die Bedeutung seiner armenischen Wurzeln - und träumt von einem deutsch-mexikanischen Duell in seiner Heimat Hamburg.
RTL Nord/sport.de: Herr Mikaelian, wie fühlt man sich als Weltmeister?
Noel Mikaelian: Ich fühle mich super: sehr, sehr gut. Es ist so, als hätte man einen Punkt auf einer To-Do-Liste abgehakt. Es war immer schon mein Kindheitstraum, diesen Gürtel – diesen grünen WBC-Gürtel – zu halten.
Was haben Sie in den ersten Tagen nach ihrem WM-Sieg gemacht? Haben Sie das Ganze schon verarbeitet?
Ich hatte in den ersten Tagen viele Pressetermine und eine Autogrammstunde in Miami. So richtig habe ich das noch gar nicht realisiert. Meine Mutter hat zu mir gesagt: Wenn du nach Deutschland in die Heimat kommst, wirst du wahrscheinlich anfangen, das zu begreifen. Ich warte jetzt darauf (lacht).
Waren Sie vor dem Kampf gegen Ilunga Makabu besonders angespannt, besonders nervös? Es war schließlich Ihr erster WM-Kampf.
Ich war viel nervöser als sonst, auch, weil ich fast zwei Jahre nicht geboxt hatte und der Kampf immer wieder verschoben wurde, da der Gegner abgesagt hat. Es hat sich angefühlt, als würde ich wieder meinen ersten Boxkampf machen.
Vielleicht war es aber doch mehr Aufregung als Nervosität. Es war der größte Kampf für mich, da will man keine Fehler machen.
Beschreiben Sie die Stunden vor dem Kampf - was war bei Ihnen los?
Es war der längste Tag meines Lebens. Ich konnte es nicht erwarten, dass der Kampf endlich anfängt. Als mein Name aufgerufen wurde, hatte ich den kompletten Tunnelblick. Ich hatte mir einen harten Kampf vorgestellt, Makabu war ja schließlich drei Jahre Weltmeister (von 2020 bis 2023,. Red.), ein sehr guter K.o.-Schläger. Ich musste sehr wachsam sein. Als der Kampf anfing, habe ich alles automatisiert, mein Unterbewusstsein hat alles gemacht. In meiner ganzen Karriere ging es praktisch um diesen Kampf. Ich musste einfach die entsprechende Leistung abrufen.
Der Kampf war schon in Runde drei zu Ihren Gunsten vorbei. War es Ihr Plan, Makabu so früh auszuschalten?
Ich hatte den Knockout nicht geplant, das kann man sowieso nie. Vor allem nicht, wenn man gegen einen Rechtsausleger boxt, der selbst ein K.o.-Schläger ist. Da ist die Linke des Gegners sehr gefährlich, weil sie direkt von der rechten, der offenen Seite kommt. Außerdem wird der eigene Jab außer Gefecht gesetzt.
Ich habe ihn in der ersten Runde angestuppert, sein Tempo gespürt, geschaut, was er machen will, was sein Plan ist. Die erste Runde habe ich gelesen und in der Zweiten habe ich seinen Jab pariert, das Tempo geführt, habe mit der Rechten mitgeschlagen und ihn erwischt. Da habe ich an seinen Augen schon gesehen, dass er sich davon wahrscheinlich nicht erholt.
Makabu rettete sich allerdings noch in die Rundenpause ...
Ja, er ist dann nochmal zurückgekommen. Der Ringrichter hat ihm noch einmal 30 Sekunden Zeit gegeben. (Anm.d.Red.: Obwohl Makabu keinen Cut oder eine sonstige Verletzung hatte, wurde er vor dem Gong zur dritten Runde von der Ringärztin untersucht. Eine völlig unübliche Praxis.) Da war ich schon etwas sauer, dachte, das läuft hier vielleicht nicht für mich und ist alles nicht so neutral. Ich dachte: Mist, jetzt hat er sich erholt und ich muss wieder von vorne anfangen. Also bin ich nicht reingestürmt, sondern habe wieder mit dem Jab angetastet. Aber dann habe ich seine Augen gesehen und gemerkt, dass er noch immer keine Balance hatte. Und dann habe ich eine Kombination geschlagen, habe ihn wieder durch die Mitte erwischt und das Ding festgemacht (lacht).
Ihre großen Kämpfe gegen Krzysztof Wlodarczyk 2017 und Mairis Briedis 2018 haben Sie äußerst umstritten nach Punkten verloren. Gegen Makabu hatte man das Gefühl, als wollten Sie die Punktrichter dieses Mal unbedingt aus dem Spiel nehmen.
Ich wollte unbedingt überzeugend gewinnen – sei es nach Punkten oder durch K.o. oder Technischen K.o. Ich wollte nicht, dass es wieder ein Fehlurteil gibt, eine Kontroverse. Deswegen war ich sehr fokussiert, dass das Ding am Ende wasserdicht ist (lacht).
Beschreiben Sie die entscheidende Szene in Runde drei: Was ging in Ihnen vor, als der Ringrichter abgebrochen hat und klar war: Sie sind der neue Weltmeister?
Es ist schwer, das zu reflektieren. Als sie seine Augen gecheckt haben, dachte ich wie gesagt, das ist nicht so neutral. Er ist mit seinem rechten Haken gekommen, ich habe gesehen, dass seine linke Seite offen ist. Da habe ich den Aufwärtshaken durchgeschlagen. Ich war nicht emotional, aber ich war siegeshungrig, wollte unbedingt gewinnen. Es war schon sehr intensiv. Als der Referee dazwischen ist und mich festgehalten hat, dachte ich der Kampf ist noch nicht zu Ende. Ich war überrascht und dachte: Was springt der mich denn jetzt so an?

Sie sind der erste Deutsche seit Max Schmeling 1930, der es geschafft hat, in den USA Weltmeister zu werden. Was bedeutet Ihnen das?
Das ist natürlich eine große Ehre. Max Schmeling ist der größte deutsche Boxer der Historie und vor allem eben der Einzige, der den Titel in den Staaten gewonnen hat. In einem Atemzug mit ihm genannt zu werden, ist eine Riesenehre. Da bin ich überaus stolz drauf.
Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus? Was sind die nächsten Schritte des WBC-Weltmeisters?
Jetzt ist erstmal Erholung angesagt. Ich habe – toi, toi, toi – im Kampf nichts abbekommen, hatte aber ein langes Trainingscamp mit Sparringsphase, davon muss ich mich jetzt erholen. Ich freue mich, hier in Hamburg bei meiner Familie zu sein über Weihnachten. Ich hatte ja schon länger keine kalten Weihnachten mehr (Mikaelian wohnt seit 2019 in Miami, d.Red.). Ich habe die Weihnachtsmärkte vermisst, einfach Weihnachten mit der Familie zu verbringen. Es ist ein tolles Gefühl, nach so einem großen Sieg wieder nach Hamburg zu kommen.
Was bedeutet Ihnen Hamburg?
Hamburg war immer eine Box-Hochburg. Die Klitschkos haben hier angefangen, Universum-Boxpromotion war damals sehr groß. Ich bin teilweise in dem Gym aufgewachsen, weil mein Stiefvater damals auch dort geboxt hat. Die Sportler waren für mich wie Vorbilder, ich dachte, dass ich eines Tages vielleicht auch einmal eine solche Karriere anstreben könnte. Tatsächlich hat es geklappt. Ich hätte es mir nicht so groß vorgestellt, dass ich in Amerika den Titel gewinne. Aber man weiß nie, wo einen das Leben hinführt.
Wie soll es sportlich weitergehen?
Ich werde mich mit meinem Team zusammensetzen. Vielleicht eine Titelvereinigung, vielleicht eine freiwillige Titelverteidigung. Vielleicht einen großen Kampf in Deutschland veranstalten, das wäre natürlich ideal. Ansonsten könnte ich sogar aufhören. Ich wollte ja diesen Gürtel haben. Aber wenn man schonmal im Geschäft ist, würde ich auch gerne mal eine Titelverteidigung in Deutschland machen.
Im Cruisergewicht haben Sie nun viele attraktive Optionen: Eine Titelvereinigung gegen IBF-Champion Jai Opetaia aus Australien zum Beispiel. Was halten Sie davon?
Warum nicht?! Auch Rechtsausleger liegen mir gut (Opetaia ist Rechtsausleger, d.Red.). Er ist sehr präsent gerade, viele Fans mögen ihn. Das wäre für die Medien sicher ein guter Kampf, wahrscheinlich auch ein sehr lukrativer Kampf.
Und dann ist der in Amerika äußert populäre Gilberto Ramirez ja gerade erst ins Cruisergewicht aufgestiegen ...
Auch ein Rechtausleger. Gerne, gerne. In Hamburg, meiner Heimatstadt, das wäre ein großer Traum. Vielleicht sogar gegen Ramirez, der aus Mexiko kommt. Deutschland gegen Mexiko, das wäre ein großes Ding. Meine Ex-Freundin ist Mexikanerin – das wäre also auch noch gut vermarktbar (lacht).
Sie sind in Armenien geboren, engagieren sich für die armenische Flüchtlingshilfe Fund for Armenian Relief (FAR). In Miami sind Sie auch unter armenischer Flagge angetreten. Wollten Sie mit Ihrem Kampf auch ein Zeichen gegen das Unrecht setzen, das Armeniern zurzeit widerfährt?
Es ist mir wichtig, weil ich dort geboren bin, dort meine Wurzeln liegen. Meine Oma ist Deutsche, ich bin hier in Hamburg aufgewachsen. Aber ich bin Weltbürger, fühle mich überall zuhause. Trotzdem sind meine Wurzeln in Armenien gelegt worden. Meine Mutter ist Armenierin, mein Vater Halb-Armenier, deswegen finde ich es wichtig, etwas zurückzugeben und nicht zu vergessen, wo man herkommt. Vor allem in diesen geopolitisch schweren Zeiten (Aserbaidschan führt in Bergkarabach Krieg gegen Armenien, tausende Armenier starben oder mussten flüchten, d.Red.). Es ist wie ein Genozid wieder (Anm.d.Red.: Luis Moreno Ocampo, ehemaliger Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, sah Anzeichen für einen von Aserbaidschans Präsident Aliev geplanten Genozid an der armenischen Bevölkerung Arzachs durch eine bewusst herbeigeführte Hungersnot).
Es gibt sehr wenige Armenier in der Weltbevölkerung. Wir sind nur zehn Millionen auf der ganzen Welt und in Armenien leben nur zwei Millionen. Ich bin der Meinung, jeder Armenier auf der Welt sollte irgendwas für die Nachfahren hinterlassen, ein Erbe. Sonst könnte es auch sein, dass die Kultur irgendwann ausstirbt, weil es so wenige gibt. Deswegen ist das sehr wichtig für mich.
Das Interview führten Lorenz Bille (RTL Nord) und Martin Armbruster
