Am 30. April 2023 begann eine neue Schach-Ära. Nach zehn Jahren löste der Chinese Ding Liren den norwegischen Superstar Magnus Carlsen als Weltmeister ab. Mit dem Triumph des 31-Jährigen waren große Hoffnungen, aber auch einige Zweifel verbunden. Leider aus Sicht des Sports wurden in den vergangenen Monaten nur Letztere bestätigt.
Wo ist Ding Liren? Diese Frage stellten sich in den letzten Monaten viele in der Schach-Szene. Der Weltmeister tauchte nach seinem Sieg im WM-Duell gegen den Russen Ian Nepomniachtchi mehr oder weniger unter. Im Mai nahm er noch an einem Live-Turnier teil. Einen Monat später trat er bei einem Online-Turnier an. Und sonst? Nichts. Gar nichts.
Seit rund fünf Monaten ist Ding, als amtierender Weltmeister zwangsläufig eines der Aushängeschilder der Szene, von der Bildfläche verschwunden. Keine Turnier-Teilnahmen, keine Interviews, keine öffentlichen Auftritte. Seine einzigen Lebenszeichen: Turnier-Absagen.
Carlsens Erbe zu groß für den Schach-Weltmeister?
Gegenüber "chess.com" ließ der Weltmeister dann vor wenigen Tagen mitteilen, dass eine Erkrankung der Grund für seine Abstinenz war. Genauer darauf ein ging er nicht. Mentale Problem machte der 31-Jährige schon vor der Weltmeisterschaft öffentlich. Ob diese ursächlich für seine Spielpause sind, kann nur spekuliert werden.
Nicht wenige glauben, dass die Bürde des WM-Titels für den zurückhaltenden Chinesen schlicht zu groß ist, immerhin trat er in die wahrscheinlich größten Fußstapfen, die es gibt: die von Magnus Carlsen. Der Norweger ist nach wie vor der beste Spieler der Welt. Den WM-Titel gab er freiwillig auf, weil ihm der Modus der klassischen WM zu langweilig ist. Sein Erbe wäre für viele Spieler zu groß gewesen. Ding, so fürchteten es viele bereits im Vorfeld der Weltmeisterschaft, ist diesem Erbe erst recht nicht gewachsen.
"Dings Problem ist, dass er schon lange unter seinem Top-Level spielt, sogar während der WM. Wahrscheinlich fühlt er sich nicht bereit, sich selbst der Schach-Welt zu präsentieren. [...] Es ist besser, ein mysteriöser, nicht spielender Weltmeister zu sein, als ein schwach spielender Weltmeister", äußerte der norwegische IM ("International Master") und TV-Experte Atle Grønn gegenüber "Verdens Gang" einen weit verbreiteten Verdacht.
Schach boomt - auch ohne Ding Liren
Für den Schach-Sport an sich ist Dings Abwesenheit zwar nicht ideal, aber auch kein allzu großes Problem. Spieler wie Carlsen oder Hikaru Nakamura sind längst ihre eigenen Marken geworden und helfen dabei, die Popularität zu steigern. Und vor allem: sie spielen. Dank ihnen boomt Schach - auch ohne den Weltmeister.
Für den Weltverband FIDE hingegen ist der Weltmeister Ding mehr Fluch als Segen. Schon in diesem Jahr hatte man große Probleme, überhaupt einen Ausrichter für die WM zu finden. Carlsens Absage war einer der Hauptgründe. Legende Garry Kasparov nannte eine WM ohne den besten Spieler der Welt "eine Art amputierte Veranstaltung". Eine Einschätzung, zu der auch viele TV-Stationen kamen, die das Duell zwischen Ding und Nepomniachtchi nicht übertragen wollten.
Ding kündigt Rückkehr ans Schachbrett an
Ding hätte in seinem ersten Jahr als Weltmeister viel dafür tun können, Werbung für seinen Sport zu machen. Auf den großen Märkten in Europa, Indien und den USA, vor allem jedoch auf dem gigantischen, schachtechnisch aber eher unterentwickelten asiatischen Markt. Ob aus nachvollziehbaren Gründen oder nicht: Diese Chance wurde vertan.
Zu diesem Urteil wird auch die FIDE kommen, die nur hoffen kann, dass sich im Kandidatenturnier 2024 in Toronto ein Spieler durchsetzt, der seine Rolle als Botschafter des Sports anders interpretiert als Ding, für den das Drumherum seit jeher mehr Last als Lust ist.
Ding, der den Spitznamen "Stiller Sturm" trägt, hat mittlerweile zugesichert, Anfang 2024 wieder ans Brett zurückzukehren. Ob er sich dabei weltmeisterlich präsentiert, bleibt abzuwarten. Seine Rückkehr wäre immerhin ein erster Schritt in die richtige Richtung. Ende des Jahres steht dann seine Titelverteidigung auf dem Programm. Ob er will, oder nicht.
Christian Schenzel

