Im letzten Winter hat sich Abigail Strate zu einer der besten und beliebtesten Skispringerinnen überhaupt entwickelt. Wie sie das geschafft hat, obwohl sie in ihrem Heimatland Kanada keine Schanzen zur Verfügung hat, wie sie mit dem gewachsenen Interesse an ihrer Person umgeht und worauf sie im nahenden Winter am meisten hinfiebert und -arbeitet, verrät die 22-Jährige im exklusiven Interview mit sport.de.
Abigail, die Sommersaison ist kürzlich zu Ende gegangen. Wie bist du zurzeit drauf und wie hast du die Zeit seit dem Sommer-Grand-Prix-Finale in Klingenthal verbracht?
Abigail Strate: Nach dem Abschluss der Sommersaison bin ich nach Nordamerika zurückgekehrt. Zunächst bin ich nach Lake Placid in die USA geflogen, um unsere kanadischen Junioren bei den US-Meisterschaften als Coach zu unterstützen. Nach einer Woche dort bin ich zum ersten Mal nach vier vollen Monaten in Europa in mein Zuhause nach Calgary zurückgekehrt. Meine Wochen zuhause verbringe ich zusammen mit meiner Familie und meinen Haustieren. Ich habe auch die ein oder andere Wanderung gemacht und bin fischen gegangen. Und ich habe mir vorgenommen, zusammen mit meiner Schwester alle Filme der Harry-Potter-Reihe zu schauen.
Wie liefen denn der Sommer und die Vorbereitung aus deiner Sicht?
Ich hatte dieses Mal einen anderen Ansatz im Verlauf des Sommers und bis in den frühen Herbst hinein. In der vergangenen Saison habe ich mich bereits im Januar müde gefühlt und im Rest der Saison war mein mentaler Akku recht schwach und ich musste in der zweiten Hälfte der Saison sehr viel kämpfen.
Letztes Jahr habe ich einige sehr gute Sprünge im September und Oktober gemacht. Deswegen habe ich mit meinen Trainern den Plan gemacht, diese 'besten Sprünge' hinauszuzögern, sodass ich mein höchstes Level erst im Winter erreiche. Was die Vorbereitung angeht, habe ich in den Sommermonaten alles getan, was ich tun konnte, um sowohl physisch als auch mental, was noch wichtiger ist, bereit für den Winter zu sein.
Der Ski-Weltverband FIS hat im Sommer eine Vielzahl neuer Regeln eingeführt. Wie bist du mit diesen Änderungen zurechtgekommen und wie geht ihr als kleines Team generell mit dem Material um?
Glücklicherweise kümmern sich bei uns die Trainer und Betreuer um die technischen und regelspezifischen Aspekte des Sports, sodass wir Springerinnen uns voll auf die Sprungtechnik und das Training fokussieren können. Unser Team ist klein, ja sogar winzig, aber wir haben ein tolles System an Unterstützern, das uns hilft, an das beste Material zu kommen, was wir uns mit unserem Budget leisten können.
Beim Sommer-Grand-Prix-Finale in Klingenthal gab es im zweiten Durchgang drei Vorfälle am Start, bei denen Athletinnen entweder zu spät oder gar nicht gestartet sind. Du warst eine der Betroffenen und wurdest von deinem Trainer Janko Zwitter trotz Startfreigabe seitens der Jury nicht abgewunken. Was ist aus deiner Sicht passiert?
Die Bedingungen waren in diesem Durchgang sehr unregelmäßig und obwohl es ein unglückliches und unbefriedigendes Ende der Sommersaison für mich war, bin ich froh, dass die Situation nicht schlimmer war und ich heile aus der Sache herausgekommen bin. Es ist besser, wenn das im Sommer passiert als im Winter, wenn es um viel mehr geht.
Hast du im Nachhinein mit Joséphine Pagnier und Eirin Maria Kvandal gesprochen, die ebenfalls betroffen waren?
Ich habe nicht persönlich mit ihnen gesprochen, aber ich glaube, dass die Situation für uns alle dieselbe war: Die Trainer hatten nur unser Bestes im Sinn und waren nicht gewillt, uns in unsicheren oder unfairen Bedingungen springen zu lassen, selbst wenn die Jury das grüne Licht gegeben hatte.
Was hast du persönlich aus dieser Situation lernen oder mitnehmen können?
Für mich gab es nicht viel zu lernen. Ich setze mein ganzes Vertrauen in meinen Trainer und werde nur springen, wenn er mich abwinkt. Natürlich hätte ich auch auf die Startampel schauen und merken können, dass die Zeit (10 Sekunden, Anm. d. Red.) abläuft und starten sollte. Aber in unserem Team ist es immer der Coach, der das finale Zeichen gibt und nicht die Farbe der Startampel.
Wenn wir schon in Klingenthal sind, war eine Sache auffällig: Du warst auf dem Titelbild der Stadionzeitschrift zu sehen und extrem gefragt bei den Fans an der Schanze. Was macht das mit dir und wie gehst du damit um?
Es macht mich sehr stolz, das Glück zu haben, mit einer möglicherweise komplett neuen Fanbase in Kontakt zu kommen und eine Präsenz bei Wettkämpfen in Deutschland und im deutschen Fernsehen entwickeln zu können. Es ist Teil auf dem Erfolgsweg Bekanntheit zu erlangen und auch Möglichkeiten zu finden, an neue Sponsoren zu kommen. Und ich denke, daraus kann ich auch einen Nutzen ziehen.
Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass der letzte Winter für dich der bislang erfolgreichste war. Kannst du beschreiben, was sich für dich und deine Teamkolleginnen in dieser Zeit verändert hat?
Das stimmt, alles hat sich über die letzten beiden Winter konstant und signifikant verbessert. Der richtige Aufschwung begann im Frühjahr 2021 als wir die Zusammenarbeit mit Janko Zwitter und Igor Čužnar begonnen haben. Diese beiden Trainer haben uns eine gänzlich neue Perspektive auf den Sport entwickelt und haben mit uns wieder von Grund auf angefangen.
Wir haben gelernt, dass es wichtig ist, jeden einzelnen Schritt zu gehen: Vom Ausgangspunkt Anfang des Sommers auf der 20-Meter-Schanze und Basistraining im Kraftraum, um uns langsam auf die Weltcup-Schanzen vorzuarbeiten. Unser Team blüht nur so vor lauter Vertrauen, Kommunikation und einer gesunden Mischung aus Teamgedanken und unseren ganz individuellen "Erfolgsgeschichten".
So ergeht es Strate und Co. ohne Schanzen in ihrem Heimatland
Anders als eure Mitstreiterinnen aus den anderen Nationen habt ihr als kanadische Skispringerinnen keine Möglichkeit, in eurem Heimatland auf weltcuptauglichen Schanzen zu trainieren. Die Schanzen in Calgary sind inzwischen seit fünf Jahren geschlossen. Wie geht es dir damit?
Es ist wirklich traurig für nur ein paar Wochen im Jahr nach Hause zu kommen und unsere ehemalige Trainingsstätte so leblos zu sehen. Mir tun die jungen Kinder unfassbar leid, die entweder schon unseren Sport betreiben oder Lust darauf haben.
Aber: Der Funken Hoffnung ist noch nicht verschwunden. Ich hatte kürzlich das Vergnügen mit einigen jungen Athleten zusammenzuarbeiten und ich sehe ganz viel Leidenschaft und Potenzial in ihnen. Du musst ein sehr starkes Herz haben, um ein kanadischer Skispringer zu sein, in jedem Alter. Und ich glaube, dass genau das uns zu den wundervollbringenden Athletinnen gemacht hat, die wir heute sind.
Gibt es derzeit denn Aussichten auf neue große Schanzen in Calgary oder andernorts in Kanada?
Im Hier und Jetzt ist sich die gesamte Skisprung-Gemeinschaft in Kanada einig, dass der Fokus auf kleinen Schanzen liegen muss, damit wir auch zukünftig Athleten haben, die den Sport am Leben erhalten.
Selbst wenn es in Calgary große Schanzen gäbe, würde das Nationalteam weiterhin in Europa trainieren, weil die Verbindung zur Skisprung-Welt eine viel nähere ist und es auch im Hinblick auf die Reisen zu den Wettkämpfen deutlich mehr Sinn macht. Wenn es große Schanzen in Kanada gäbe, wäre der große Unterschied für uns, dass wir vor allem im Frühjahr und Herbst die Chance hätten, mehr Zeit zuhause zu verbringen und weiterhin auch springen könnten.
In eineinhalb Monaten, am 1. Dezember, beginnt der Weltcup-Winter und damit auch die Hochzeit für euch Springerinnen. Wie wirst du die Zwischenzeit verbringen?
Ich beende just meine "Pause" zuhause und kehre am 20. Oktober für eine letzte intensive Trainingsphase nach Europa zurück. Nach fünf soliden Monaten Sommertraining sind meine Fähigkeiten und Sprungtechnik dort, wo ich sie haben will. Es geht dann darum, die besten Sprünge zur richtigen Zeit auszuführen. In den nächsten eineinhalb Monaten werde ich weiter trainieren, um die bestmögliche physische und mentale Form zu erreichen, bevor der Winter in Lillehammer beginnt.
Worauf freust du dich am meisten und welche Ziele hast du dir für den Winter gesteckt?
Am meisten freue ich mich auf die Raw-Air! Ich finde diese Tournee unfassbar aufregend – es ist der letzte Spurt der Saison und bringt uns alle an die Grenzen, was die mentale und physische Ausdauer angeht.
Meine Ziele für den Winter sind, dass ich über 200 Meter fliege, mein erstes Weltcupspringen gewinne, mindestens drei Mal auf dem Podium lande und bei der Raw-Air unter den Top 6 in der Gesamtwertung lande.
Abseits der Resultate bin ich gespannt zu sehen, wie viel stärker ich im Kopf bin – ob ich es schaffe, die gesamte Saison über bei 100 Prozent zu sein oder ob es eine Zeit geben wird, in der ich müde werde und mich ausgebrannt fühle. Jede Saison ist wie ein spaßiges neues Spiel: Du versuchst dich bestmöglich vorzubereiten, aber wenn es dann so richtig losgeht, weißt du nie genau, wie es ausgeht, bis du erstmal drin bist!
Vielen Dank für das spannende Gespräch und viel Erfolg für den Weltcup-Winter!
Das Gespräch führte Luis Holuch