Karl Geiger geht als größte Hoffnung des deutschen Skispringens in die Saison 2022/2023.
Wenige Tage vor dem Weltcup-Auftakt im polnischen Wisla spricht der 29-Jährige im exklusiven sport.de-Interview über den ungewohnten Start auf Matten, seine Form und den erneuten Ausschluss Russlands. Außerdem verrät Geiger, warum er das neue Super-Team-Format kritisch sieht.
Herr Geiger, für Sie und Ihre Mitstreiter ist die Pause zwischen der Sommer- und der Wintersaison so kurz wie noch nie. Wie groß ist Ihre Vorfreude auf den Weltcup-Start am kommenden Wochenende in Wisła?
Karl Geiger: Auch wenn das Wetter nicht gerade nach Weltcup-Start ausschaut, freue ich mich riesig drauf. Ich freue mich auf die komplett neue Erfahrung mit Anfahrt auf Eisspur und Landung auf Matte, das gab es zuvor noch nie. Ich würde es mal als Pilotprojekt bezeichnen, in dem man mal sieht, wie es ankommt und ob man es vielleicht sogar noch optimieren kann.
Ich bin neugierig zu sehen, wie viel in meiner Form aktuell drinsteckt und wie dieser Event angenommen wird. Und dann hat man nochmal zwei Wochen Zeit, um zu analysieren und nach zu justieren. Mit dieser Unterbrechung danach hat man auch nochmal die Möglichkeit rauszukommen, bevor es dann Schlag auf Schlag geht. Ich bin gespannt, wie mir das alles taugt.
Wie zufrieden sind Sie denn mit Ihrem aktuellen Leistungsstand?
Ich bin mit der Vorbereitung zufrieden, es lief in den letzten Wochen nicht verkehrt. Auch mannschaftlich habe ich ein gutes Gefühl, wir sind sehr kompakt. Zuletzt beim Sommer-Grand-Prix in Klingenthal und auch bei der deutschen Meisterschaft habe ich zwar gemerkt, dass meine Sprünge noch nicht ganz da sind, wo ich sie haben möchte, aber auch nicht aus der Welt. Es gibt einem ein beruhigendes Gefühl, wenn man weiß, dass man trotzdem gut mit dabei ist, auch wenn nicht alles bei 100 Prozent ist.
Als dieser Hybrid-Weltcup-Start in Wisla angesetzt wurde, dachte wohl noch niemand an eine Energiekrise, die in der Zwischenzeit Realität wurde. Im Ski Alpin wurden bereits Weltcups abgesagt, stellt diese Krise auch für das Skispringen eine Gefahr da?
Das beschäftigt einen natürlich und ist kein Thema, was man achselzuckend wegtun könnte. Auch unabhängig vom Sport, sondern auch aufs alltägliche Leben bezogen. Fürs Skispringen sehe ich es aber grundsätzlich positiv, weil wir im Verhältnis wenig Schnee brauchen. Wir haben den Aufsprunghang und den Auslauf, die beschneit werden müssen. Das ist viel weniger als bei einer Zehn-Kilometer-Loipe oder einer Drei-Kilometer-Abfahrt mit entsprechenden Auslaufzonen.
Ich habe ein ganz gutes Gefühl, dass man es auch ohne Schnee hinkriegen würde. Ob es so kommt, wird sich zeigen. Wenn es natürlich so warm bleibt, wie zuletzt, kann es für Veranstalter auch mal schwierig sein, das zu stemmen.
Der Winter-Kalender ist mit 32 Einzel- und vier Teamspringen, sowie je zwei Super-Team- und Mixed-Team-Wettkämpfen prall gefüllt. Auf was freuen Sie sich besonders?
Ich freue mich tatsächlich sehr auf die WM in Planica. Mit dem Ort verbinde ich durch meinen Skiflug-Weltmeistertitel 2020 sehr viele positive Erinnerungen. Aber ich freue mich auch deshalb, weil ich die WM-Schanzen noch nie im Winter gesprungen bin. Es werden also hoffentlich die ersten Winter-Wettkämpfe sein, die ich auf diesen Schanzen bestreite. Deswegen bin ich da sehr neugierig drauf.
Haben Sie denn zumindest im Sommer schon Sprünge auf den Anlagen machen und ein Gefühl für sie entwickeln können?
Bis zu diesem Jahr habe ich auch im Sommer noch keinen einzigen Sprung dort gemacht (lacht). Beim Lehrgang diesen Sommer habe ich aber ein paar vereinzelte gute Sprünge gemacht und es ganz gut hinbekommen. Die Spur im Sommer ist dort sehr eigen und mit der hatte ich einige Probleme. Ich bin aber gespannt, wie sie im Winter geht, weil man mir schon von mehreren Seiten bestätigt hat, dass sie anders geht als im Sommer.
Das Super-Team-Format ist eine von vielen Neuerungen, die im Winter warten. Viele Beobachter waren überrascht, dass es nach nur einem Testlauf im Sommer direkt in den Weltcup aufgenommen wurde. Beim Test im Sommer waren Sie zwar nicht dabei, haben Sie dennoch eine Meinung zu diesem Event?
Ich muss zugeben, dass mich das auch überrascht hat. Wenn ich mir die Fakten anschaue, bin ich kein Fan von diesem Event. Es starten nur zwei Springer pro Nation und ich sehe die Gefahr, dass gar nicht die Besten jeder Nation mitspringen. Aus einer Nation wie Deutschland beispielsweise können auch der viert- oder fünftbeste Springer um Podestplätze springen. Und man kann vorher nie sagen, wer dort mitspringt. Es gibt viel Potenzial, das dort auf der Strecke bleibt.
Für Sie überwiegt dieser Nachteil also die Tatsache, dass man in dieser langen und vollgepackten Saison auch mal einen Tag wettkampffrei haben könnte?
Ich sehe das so: Wenn ich die Möglichkeit habe, bei einem Wettkampf zu starten, dann will ich den auch mitnehmen. Man trainiert den ganzen Sommer auf diese Wettkämpfe hin und wenn ich irgendwo zu einem Event fahre, möchte ich, wenn ich darf, auch mitmachen. Man reist dorthin und bereitet sich darauf vor. Wenn man dann nur einen Wettkampf hat, ist der Aufwand meiner Meinung nach zu hoch.
Einen Wettkampf an einem Ort werden Ihre Kolleginnen heuer erstmals in Vikersund haben, wo die Premiere des Skifliegens steigen wird. Wie beurteilen Sie das Format mit den 15 Besten der Raw-Air-Gesamtwertung und ist Vikersund als Einstieg geeignet?
Ich finde das Format, was sie gefunden haben, sehr gut. Skifliegen ist nochmal eine andere Hausnummer und es geht in erster Linie um die Sicherheit. Das Starterfeld bei den Damen wird immer besser und dichter. Das Niveau steigt jedes Jahr und das ist sehr schön mit anzusehen. Ab einem gewissen Punkt fällt das Niveau aber noch ab, speziell auf großen Schanzen. Auf einer 120-Meter-Schanze ist die Lücke zwischen Platz eins und 30 doch recht groß.
Ich bin aber der Meinung, dass die Top 15 das Skifliegen sehr gut meistern werden. Aus Sicherheitsgründen ist es klug, nur die Allerbesten starten zu lassen. Ansonsten sehe ich die Gefahr, dass jemand, der die Chance hat, Skifliegen zu gehen, das auch tut, egal ob es überhaupt Sinn ergibt. Das ist bei uns Herren genauso.
So bekommen die besten 15 die Chance, das finde ich zum Einstieg einen guten Kompromiss. Vikersund ist auf dem Papier zwar die größte Schanze, aber zum Einstieg gut. Dort ist die Anfahrtsgeschwindigkeit nicht ganz so hoch wie in Planica oder am Kulm und man ist deutlich flacher in der Luft. Sobald es dort gefährlich wird, hat man die Möglichkeit, den Flug "abzustellen" und auf der Mitte des Hangs zu landen – anders als eben in Planica oder am Kulm, wo man deutlich höher fliegt. Meine erste Wahl wäre aber Oberstdorf gewesen, weil die Flugkurve dort sehr schön und flach und der Hang sehr windgeschützt ist. Sie geht auch nicht so weit wie die in Vikersund.
Wer in Vikersund und auch bei allen anderen Stationen fehlen wird, sind die Springerinnen und Springer aus Russland, deren Ausschluss kürzlich verlängert wurde. Wie stehen Sie zu dieser Entscheidung?
Das ist eine ganz schwierige Frage. Ich sehe es so, dass dieser Krieg Konsequenzen haben muss und, dass man auch gemeinschaftlich ein Zeichen setzen sollte. Für die Athleten wiederum tut es mir leid. Man hat nur eine begrenzte Zeit, um seinen Sport auszuüben und bei uns im Skispringen war das Team gerade erst so richtig im Kommen, anders als im Langlauf oder Biathlon. Im Endeffekt bezahlen sie für Fehler, die sie selbst nicht gemacht haben. Ich bin insgesamt zwiegespalten und wüsste nicht, wie ich die Entscheidung getroffen hätte.
Entscheidungen hat der Weltverband FIS auch im Materialsektor getroffen. Es gibt neue Regeln für den Anzugschnitt, dazu neue Messverfahren und auch einen neuen Materialkontrolleur. Geht aus Ihrer Sicht nach der unrühmlichen Mixed-Team-Premiere bei Olympia jetzt vieles in die richtige Richtung?
Die Regeländerungen haben an sich wenig mit Olympia zu tun. Dort haben sich viele unglückliche Dinge verkettet und es sind vor allem auf menschlicher Seite Fehler passiert. Meiner Meinung nach war es damals nicht ein Problem des Regelwerks, sondern des Kontrollverfahrens.
Die Änderungen, die es jetzt gibt, haben alle eine gute Intention. Sie möchten den Sport fairer und transparenter machen. Der Anzug bleibt aber ein flexibler Gegenstand, der an einen Körper angepasst ist, der auch nicht jeden Tag gleich ist. Deswegen wird es auch immer ein schwieriges Thema bleiben.
Ich hoffe einfach, dass das, was bei den Olympischen Spielen passiert ist, so nicht nochmal vorkommt. Die Regeln allein schützen davor aber nicht. Ich denke aber, dass es gut aufgearbeitet worden ist und der neue Materialkontrolleur ist sehr bemüht und engagiert. Er versucht es fair und transparent zu machen, dabei habe ich ein gutes Gefühl.
Zum Abschluss folgt noch die obligatorische Frage: Welche Ziele hat sich Karl Geiger für diese Saison gesetzt oder anders gefragt: Was muss passieren, damit Karl Geiger zufrieden mit seiner Saison ist?
Das ist eine sehr gute Frage, das weiß ich selber noch nicht (lacht). Ich muss jetzt erstmal reinfinden, aber wenn ich auf dem Niveau der letzten Jahre agieren kann, kann ich sehr zufrieden sein. Natürlich möchte ich mich verbessern und am liebsten auch viel gewinnen.
Aber es ist kein Wunschkonzert und die Konkurrenz schläft nicht. Man kann ich verwalten, sondern muss schauen, wo man sich verbessern kann, aber das probiert die ganze Welt. Und wenn man schon weit vorne ist, ist nicht mehr viel Luft nach weiter vorne. Wenn ich weiterhin dazu in der Lage bin, eine Saison wie die letzte zu springen, dann ist die Saison gut verlaufen.
Meine Ziele sind pragmatisch: Ich möchte nicht stehen bleiben und an alten Mustern festhalten, sondern offen und frei reingehen. Ich möchte mich springerisch und menschlich weiterentwickeln. Jedes Wochenende das Beste zu geben und meine Sprünge so zu optimieren, dass es für vordere Ränge reicht, das sind meine Ziele.
Das Gespräch führte Luis Holuch
