Die Kamera hielt gnadenlos drauf. Eine gefühlte Ewigkeit versuchte Annika Schleu vergeblich, ein panisches Pferd in Bewegung zu setzen - und die Bundestrainerin setzte dem Ganzen die Krone auf.
Der Moderne Fünfkampf hat seine olympischen Schlagzeilen - aber ganz anders, als man sich das vor Tokio erhofft hatte. Unendlich lange Sekunden, "eine gefühlte Ewigkeit", wie Annika Schleu selbst sagte, versuchte die zu diesem Zeitpunkt noch führende Berlinerin, ihr zugelostes Pferd Saint Boy in den Griff zu bekommen - vergeblich. Als sei das nicht schon genug, setzte Bundestrainerin Kim Raisner noch einen drauf. "Hau drauf, hau mal richtig drauf", rief sie Schleu zu.
Im Gespräch mit dem "SID" stand Kim Raisner später zu dieser Aussage. "Ich hab gesagt, hau drauf. Aber sie hat das Pferd nicht gequält, in keinster Weise", sagte die Bundestrainerin: "Dass man mal die Beine zumacht oder mal mit der Gerte hinten draufhaut, ist jetzt keine Quälerei. Sie hat probiert, dieses Pferd vorwärts zu reiten. Sie hat dem Pferd nicht im Maul gerissen. Sie hatte keine scharfen Sporen dran. Pferde quälen sieht anders aus."
Die Bilder gingen viral, Peking-Olympiasiegerin Lena Schöneborn versuchte im "ARD"-Studio, die Wogen zu glätten. "Ich würde das nicht als Tierquälerei bezeichnen, Annika hat die Gerte aus dem Handgelenk bewegt", sagte Schöneborn, die 2016 in Rio mit dem Pferd Legende dasselbe erlebt hatte. Sie habe, sagte Schleu noch, "versucht, so einfühlsam wie möglich zu sein. Ich glaube, gerade wir Deutschen sind als gute, solide und einfühlsame Reiter bekannt".
Schleu erreichen Hassbotschaften
Schleu erreichte nach dem Zwischenfall eine Unmenge an Hassbotschaften. "Sie ist emotional sehr angeschlagen, es bewegt sie sehr, diese üblen Sachen", sagte Raisner: "Wir haben ihr das Telefon weggenommen. Sie liebt Pferde, sie reitet gerne. Wenn du dann solche Nachrichten bekommst, ist das hart."
Isabell Werth sah sich derweil in ihrer Meinung bestärkt. "Fünfkampf hat nichts, aber auch gar nichts mit Reiten zu tun", sagte sie dem SID: "Die Pferde sind ein Transportmittel, zu denen die Athleten keinerlei Bezug haben. Denen kann man genauso gut ein Fahrrad oder einen Roller geben." Die Reiterin habe ihr leidgetan, sagte Werth: "Sie ist ein Opfer des Systems im Fünfkampf, das gilt es dringend zu überarbeiten."
Dieses System, das es in Tokio erlaubte, einem Pferd, das mit einer Reiterin zuvor bereits dreimal verweigert hatte, erneut zum Einsatz zu bringen. Schleu habe sich sogar noch mit der Pferdebesitzerin ausgetauscht, berichtete Schöneborn, "und die hat gesagt, irgendwas stimmt da nicht, Annika solle schnell einreiten und galoppieren". In so einem Moment, so Schöneborn, "muss die Möglichkeit bestehen, das Ersatzpferd zu nehmen".
DOSB reagiert mit Stellungnahme
Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) sprach in einer ersten Stellungnahme von "Szenen, die dem Ansehen der Sportart schaden. Zahlreiche erkennbare Überforderungen von Pferd-Reiter-Kombinationen sollten für den internationalen Verband dringend Anlass dafür sein, das Regelwerk zu ändern." Dieses müsse "so umgestaltet werden, dass es Pferd und Reiter schützt." Das Wohl der Tiere und faire Wettkampfbedingungen für die Athletinnen und Athleten müssen im Mittelpunkt stehen."
Auch der Reiterverband FN reagierte auf die skandalösen Vorfälle beim Fünfkampf. Als Fachverband für den Pferdesport sehe man "die Reiterei im Modernen Fünfkampf kritisch. Unser Verständnis der Reiterei liegt in der Partnerschaft zwischen Mensch und Pferd und nicht darin, das Pferd als Sportgerät zu betrachten", sagte FN-Geschäftsführer Dennis Peiler.
Die Bilder, die man gesehen habe, zeigen "eine klare Überforderung von einigen Reiterinnen und Pferden", erklärte Peiler weiter. Aus Sicht der FN müsse "das Regelwerk dieser Sportart so gestaltet sein und angewendet werden, dass Reiter und Pferd geschützt werden. Hier besteht beim Modernen Fünfkampf offensichtlich dringender Handlungsbedarf."