Anlässlich der Winterspiele in Pyeongchang erinnert sport.de an prägende Momente der Olympia-Geschichte. Heute: Wie vier Jamaikaner vor 30 Jahren im Viererbob für Furore sorgten.
Auch wenn die erste jamaikanische Teilnahme an den Olympischen Winterspielen 1988 im kanadischen Calgary sportlich eher bescheiden verlief, ist das Bobteam des karibischen Inselstaates bis heute in aller Munde. Nicht zuletzt wegen des Disney-Films "Cool Runnings", der sich an dieser Geschichte orientiert – wenn auch mit viel künstlerischer Freiheit.
Als Gründervater dieser Sensation gilt der Geschäftsmann George Fitch. "Ihr habt großartige Athleten", sagte der Amerikaner damals zu einem jamaikanischen Freund. "Großartige Athleten sind in der Lage, in jedem Sport erfolgreich zu sein." Aber ausgerechnet Bobfahren?
Von Seifenkisten zum Bob
Die Idee dazu kam Fitch, als er das in Jamaika sehr beliebte "Push-Cart-Derby" besuchte, ein Seifenkistenrennen, bei dem ein Team aus Anschieber und Pilot in selbstgebauten Gefährten steile und kurvige Bergstraßen herunterrast.
Allerdings wollte keiner der Seifenkisten-Piloten am Experiment des Geschäftsmannes teilnehmen. Auch unter den traditionell starken jamaikanischen Sprintern fanden sich keine Interessenten. Fündig wurde Fitch schließlich beim Militär.
Bei einem Sichtungstraining wurden die Soldaten Devon Harris, Michael White, Dudley Stokes und Samuel Clayton ausgewählt. Den Ausschlag für Ihre Nominierung hatte ihre Sprintstärke gegeben. "Die Hälfte des Rennens kommt es darauf an, wie schnell man ein 600 Pfund schweres Objekt schieben kann", begründete Fitch gegenüber "ESPN".
Dass Leichtathleten in den Bobsport wechseln, ist auch bei etablierten Bob-Nationen nicht ungewöhnlich. So begann zum Beispiel Kevin Kuske, der 2002 in Salt-Lake-City Gold im Viererbob für Deutschland holte, seine Karriere als 100-Meter-Läufer.
"Es war kalt und rutschig"
Aber auch die jamaikanischen Soldaten waren skeptisch mit Blick aufs Fitchs Vorhaben. "Ich musste erstmals etwas recherchieren, weil ich nicht wusste, was ein Bob ist", erinnerte sich Stokes in der kanadischen Fernsehsendung "16x6". "Es war kalt und rutschig", beschwerte er sich später im "Schweizer Fernsehen". "Dazu kamen die dünnen Rennanzüge und dann soll man auch noch so schnell rennen, wie man kann."
Trotzdem nahmen die Jungs ihre neue Sportart sehr ernst und qualifizierten sich für die Olympischen Spiele in Calgary.
Die Merchandise-Artikel der Außenseiter gingen weg wie warme Semmeln, der offizielle Song des Teams, "Hobbin' and a Bobbin'" lief überall und die Newcomer wurden wegen ihrer guten Laune und des karibischen Flairs zur Hauptattraktion der Spiele.
Geschichte schrieben Stokes und White, die im Zweierbob als erste jamaikanische Athleten überhaupt an einem Wettkampf bei den olympischen Winterspielen teilnahmen. Nach vier Läufen fuhren die beiden immerhin als 30. von 38. Teilnehmern ins Ziel. Eigentlich sollte das Abenteuer Olympia für die Jamaikaner damit beendet sein, doch die Jungs hatten Blut geleckt und wollten nun auch mit dem Viererbob antreten.
Top-Start und Horror-Crash
Das Problem dabei: Das Team besaß keinen Viererbob. Doch Fitch fand schnell eine Lösung. Man kaufte dem kanadischen Bobteam einen alten Viererbob ab und lackierte ihn in gelb-grün-schwarz.
Der erneute Start sorgte auch beim Publikum für Begeisterungsstürme. Ganze 40.000 Zuschauer wollten die Jamaikaner im Eiskanal sehen. Dabei hatten sie kaum Erfahrung mit dem neuen Gefährt. "Das Rennen bei den Olympischen Spielen war unser erstes im Viererbob", verriet Harris "ESPN". Man habe lediglich ein paar Mal im Vierer trainiert.
Die Jamaikaner stellten ihre Sprinter-Qualitäten unter Beweis und erwischten den siebtbesten Start. Bis zur achten Kurve lief es richtig gut, das Publikum johlte. Doch dann fand die Reggae-Party im Schnee von Calgary ein jähes Ende. Der Schlitten kollidierte mit der Wand und dreht sich bei 130 Stundenkilometer auf die Seite. Mit den Köpfen auf dem Eis schlitterten Harris und Co. der Ziellinie entgegen.
Bruchpiloten werden Volkshelden
"Ich habe sie alle getötet", schoss es Fitch beim Anblick des Crashs in den Kopf. "Wie erkläre ich das ihren Familien?". Doch wie durch ein Wunder blieben die Athleten unverletzt. Lediglich ihr Ego hatte einige Kratzer abbekommen.
"Ich erinnere mich daran, dass ich gedacht habe 'Wie peinlich, wir sind gecrasht'", erzählte Harris der "BBC". Doch es kam ganz anders. "Als wir die Bremsstrecke entlang liefen und uns selber leid taten, begann das Publikum zu jubeln", so der Jamaikaner weiter. Das kanadische Publikum feierte die Wintersport-Pioniere, die vier unglücklichen Jamaikaner kamen aus dem Händeschütteln nicht mehr heraus.
>> Das Vierer-Bob-Rennen der vier Jamaika-Helden
Auch in der Heimat wurden die Bob-Helden für ihre Leistung gefeiert. "Was für ein fantastisches Debüt", jubelte die jamaikanischen Tageszeitung "Gleaner". "Unfälle können mal passieren. Für alle Jamaikaner seid ihr immer noch Gewinner."
Sebastian Ernst
