"HW4" ist Geschichte – in Spanien hat Heiko Westermann den Rummel um seine Person zurückgelassen und genießt volle Wertschätzung bei seinem neuen Verein Real Betis.
"No lo sé" – ich weiß es nicht. Dies sei der erste Satz gewesen, den der ehemalige HSV-Verteidiger und 27-fache Nationalspieler nach seiner Ankunft im August 2015 in Sevilla gelernt habe, erzählt er. Was weiß er nicht, möchte man ihn fragen. Warum es für ihn in seiner ersten Saison in der spanischen Primera División so gut läuft, wo er doch in den letztjährigen Seuchenjahren an der Elbe oftmals als Sündenbock verschrien wurde? Die Antwort darauf liegt allerdings auf der Hand: Westermann ist nach guten Leistungen und mit seiner riesigen Erfahrung nicht mehr aus der Abwehr von Real Betis wegzudenken.
Dabei geriet der Unterfranke, der beim HSV in fünf Jahren unter allen zehn (!) Trainern stets gesetzt war, immer wieder in die Kritik und polarisierte die Anhänger. Gerade in den beiden Fast-Abstiegsjahren wackelte die Abwehr um Westermann gehörig. Von einem "Sicherheitsrisiko" sprach man an der Elbe. "Immer wieder Westermann" war von den Fans zu hören.
Für andere war "HW4", dem das Kürzel mit seiner Rückennummer ironischerweise in Anlehnung an das Cristiano-Ronaldo-Kürzel "CR7" von Verein und Fans auferlegt wurde, schlichtweg Kult. Einer, der trotz technischer Defizite immer voran ging. Einer, der auch in schweren Zeiten zum Verein hielt und sich in jeden Zweikampf warf. Einer, der sich die Profikarriere erarbeitet hat. "Von nichts kommt nichts!" ist treffenderweise Westermanns Lebensmotto.
Neuanfang läuft gut
Nach zehn Jahren Bundesliga wurde sein Vertrag in der Hansestadt nicht mehr verlängert. "Ich denke einfach, dass Hamburg, wie ich, einen Tapetenwechsel brauchte", erklärt Westermann. Also sagte der heute 32-jährige "Adios" und schloss sich dem traditionsreichen Real Betis Sevilla an. Dort steht auch Teamkollege Rafael van der Vaart unter Vertrag, spielt sportlich allerdings keine Rolle.
Westermann, nun mit der Rückennummer 17, erhoffte sich mit seinem Wechsel eine Art Neuanfang abseits des Bundesliga-Trubels. Auf Anhieb fühlte er sich im Süden Spaniens wohl. Unter Pepe Mel, mittlerweile durch den aktuellen Trainer Juan Merino ersetzt, lief es auch sportlich sofort sehr gut.
Am siebten Spieltag schoss sich Westermann mit seinem ersten Tor für den neuen Verein mitten in die Herzen der Fans: Der Abwehrspieler eroberte den Ball in eigener Hälfte, verlagerte das Spiel auf die rechte Seite während er selbst in Richtung Tor sprintete. Im Strafraum ließ er dem Torwart in bester Stürmermanier keine Abwehrchance – der "neue" Westermann war angekommen.
Eigentor und Verletzungspause
Mit Westermann in der Abwehrzentrale hielt sich der Abstiegskandidat und Meister der Saison 1934/35 tapfer im Mittelfeld der Tabelle und holte auch im Stadtderby gegen den FC Sevilla einen ehrenwerten Punkt. Die Atmosphäre im Stadion, so der Routinier, sei dabei bereits eines der Highlights der Saison gewesen. Spanisches Temperament als Kontrastprogramm zum kühlen Norden Deutschlands.
Westermanns Saison schien gar ohne jeglichen Tiefschlag abzulaufen, bis Betis am 17. Spieltag beim Top-Favoriten Barcelona spielte. Nach einem Elfmeter von Neymar an die Latte grätschte Westermann im Abwehrversuch gegen den Uruguayer Luis Suárez zum Ball und verursachte dadurch nicht nur ein kurioses Eigentor, sondern verletzte sich auch derart schwer am Knöchel, dass er ganze zehn Wochen ausfiel.
Ohne den Abwehrchef rutschte das Team zwischenzeitlich auf Platz 15 ab und geriet erstmals ernsthaft in den Abstiegskampf. Mittlerweile hat Betis den Klassenerhalt allerdings vorzeitig mit Siegen über die direkten Konkurrenten Levante UD und UD Las Palmas gesichert und kann sich gedanklich schon auf die nächste Saison vorbereiten.
Am Samstag treffen die Verdiblancos im Estadio Benito Villamarín dann erneut auf den großen FC Barcelona (ab 20:30 Uhr im sport.de-Liveticker). Heiko Westermann kann man nur wünschen, dass sich diese Begegnung nicht zu einem schlechten Omen entwickelt. Das Wichtigste, so sagt der Deutsche selbst, hat er aber bereits: "wieder Spaß am Fußball".
Gerrit Kleiböhmer