Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft geht zwar als Tabellenführer in das wichtige WM-Quali-Spiel in Nordirland - aber nicht unbedingt mit der breiten Brust eines Spitzenreiters. Die Partie hat den Charakter eines Schicksalsspiels, das DFB-Team muss sich am Riemen reißen. Ein Gelingen der heiklen Mission könnte Signalwirkung haben.
Es mag nur ein Gefühl sein. Aber rein vom Feeling her lässt sich das Gefühl vor dem schweren WM-Quali-Spiel der deutschen Nationalelf in Belfast (ab 20:27 Uhr, LIVE bei RTL) mit einem Begriff aus dem Tennis zusammenfassen: Advantage Northern Ireland, Vorteil Nordirland.
Gewiss: Da ist das 3:1 aus dem Hinspiel in Köln, als die Auswahl von Bundestrainer Julian Nagelsmann die Nerven behielt und nach dem 0:2-Debakel in der Slowakei verhinderte, dass die Mission WM-Ticket zur Mission Schwer Possible wird.
Aber da sind auch einige ungute, unschöne, warnende Erinnerungen. Das 1:1 bei Halbzeit, die gellende Pfiffe der deutschen Fans auf dem Weg in die Kabine. Der spielerische Krampf über weite Strecken. Die zweikampfharten, kompakten Nordiren, die den Deutschen mit langen Bällen das Leben schwer machten.
Dass Deutschland als Favorit ins Spiel geht, ist seinem über Jahrzehnte gewachsenen Status als Fußball-Großmacht geschuldet. Einem ausgewachsenen Selbstverständnis, das Nagelsmann nach der Heim-EM 2024 in die Ansage verpackte, 2026 in den USA, Kanada und Mexiko den Weltmeister-Thron zu erklimmen.
DFB ein Mix aus Krise, Bammel und Identitäs-Suche
Dieses Selbstverständnis hat in den vergangenen Monaten arge Kratzer bekommen. Im Final Four der Nations League setzte es zwei Niederlagen gegen Portugal und Frankreich - okay, zwei andere Großmächte. Wer allerdings gedacht hatte, Deutschland würde danach in den Souverän-Modus umschalten und durch die WM-Qualifikation marschieren -, den hat die Mannschaft eines Schlechteren belehrt.
Das 0:2 zum Start der Qualifikation in der Slowakei war nach Ansicht praktisch aller Fußball-Gelehrten des Landes eine der schlechtesten Leistungen, die je eine deutsche Mannschaft fabriziert hat. Immerhin: Beim folgenden 3:1 im gegen Nordirland riss sich die DFB-Elf am Riemen, räumte Widerstände aus dem Weg, ächzte und ackerte sich zum bitter benötigten Dreier.
Und doch ist die Brust von Nagelsmann und Co. nicht wieder so breit wie sie nach dem knappen Aus gegen Spanien bei der Heim-EM war, als der Bundestrainer seine Mannschaft auf Weltklasse-Niveau wähnte und den Goldpokal ins Visier nahm. Gefühlt herrscht rund um den DFB ein Mix aus Krise, Bammel und Identitäts-Suche. Selbst Weltmeister-Legende Pierre Littbarski bekannte kürzlich, er habe "Schiss", was die WM-Qualifikation angeht. Vom Feeling her kein gutes Gefühl.
Sorgen bereitet vor allem die Offensivabteilung. Beim 4:0 gegen Luxemburg ließ die deutsche Mannschaft einmal mehr viele gute Möglichkeiten liegen. Bezeichnend, dass der wieder zum Rechtsverteidiger mutierte Kapitän Joshua Kimmich einen Doppelpack schnürte und sein linkes Pendant David Raum einen Treffer beisteuerte.
Die England-Legionäre Nick Woltemade, Deutschlands Sturmhoffnung Nummer eins, und der angekratzte Liverpool-Star Florian Wirtz blieben hingegen torlos. Ein Chancenwucher wie gegen Tabellenschlusslicht Luxemburg verbietet sich bei den Nordiren.
Nordirland kann viel freier aufspielen
Denn die Grün-Weißen haben ihren Beitrag geleistet, warum das Spiel heute Abend so spannend ist. Seit zwei Jahren oder sieben Spielen sind sie auf heimischem Boden unbesiegt. Die 27.000 Fans im Windsor Park werden das Team frenetisch anfeuern, jede Grätsche, jedes gewonnene Kopfballduell feiern wie einen Sieg. Vorteil Nordirland.
Zusätzlich heiß gemacht hat die "Green and White Army" ausgerechnet Nagelsmann, dessen Analyse des Hinspiels auf der Insel derart gelesen wurde, als dass man hier nix könne außer lange Bälle, kick and rush.
Dass die Gastgeber ohne Druck und Erwartungen spielen, wäre zwar ein wenig too much Understatement. Aber im Vergleich zur deutschen Mannschaft können die Nordiren frei aufspielen. Keiner fordert von ihnen einen Sieg, kaum einer kräht nach gutem Fußball - ganz anders als aufseiten des viermaligen Weltmeisters, den nicht nur der ständige Siegdruck begleitet, sondern auch 40 Millionen kritische Augenpaare von 80 Millionen Bundestrainern. Vorteil Nordirland.
Auch ein dreckiger Sieg gibt Deutschland WM-Schub
Die Tabelle lügt nicht: Nordirland ist nach dem 2:0 gegen DFB-Schreck Slowakei punktgleich Zweiter hinter Deutschland vor den ebenfalls punktgleichen Slowaken. Das Spiel in Belfast hat Schicksalscharakter: Der Sieger macht einen riesigen Schritt Richtung WM 2026.
Keine Frage: Die DFB-Elf muss die Trümpfe der Gastgeber mit ihren eigenen Stärken neutralisieren. Was die vielbeschworene "Qualität" angeht, ist Deutschland klar im Vorteil, auf jeder Position besser besetzt. Schafft es die Nagelsmannschaft ihr spielerisches Plus auf den Rasen zu bringen, könnte vom Abend von Belfast das entscheidende Signal für die kommenden Monate ausgehen.
Ein Sieg - und selbst wenn es ein dreckiger sein sollte - würde den Deutschen mächtig Schub geben. Ohne Luxemburg zu nahe zu treten, wäre man dann nur noch einen Heimsieg entfernt vom WM-Ticket - gegen die Slowakei im November. Machbar, auch von einer deutschen Mannschaft, die noch nicht in Topform und Bestbesetzung aufläuft.
Meistert die deutsche Mannschaft heute also die Herausforderung Belfast, könnte die Brust endlich wieder breit, das Selbstverständnis ein gutes Stück zurückkehren. Fester Stand, statt zitternde Füße. Im Idealfall schweißt die schwierige und nervenaufreibender als gedachte WM-Quali die Mannschaft für 2026 zusammen. Für Julian Nagelsmann und seine Spieler gilt es.










