Der DFB und Julian Nagelsmann sind sich offenbar einig, die nähere Zukunft gemeinsam zu bestreiten. Bis zu Heim-EM soll der Trainer die Fußball-Nationalmannschaft auf Vordermann bringen. Dieser Plan birgt Risiken, die vor allem mit seiner Bayern-Vergangenheit zu tun haben.
Was macht eigentlich das Team gerade, das die DFB-Doku "All or nothing" zum WM-Debakel der Nationalmannschaft in Katar produziert hat? Kameras in der Kabine kämen im Oktober gelegen, dann nämlich, wenn der designierte neue Bundestrainer Julian Nagelsmann zum ersten Mal auf sein Team trifft. Auf die Nationalspieler, mit denen er auf eine erfolgreiche Heim-Europameisterschaft zusteuern möchte. Denn da sind einige vom FC Bayern darunter, einige, die Nagelsmann bereits kennt. Und das, wo er beim Münchner Vorzeigeklub doch vor seinem Rausschmiss im März "die Kabine verloren haben" soll.
Julian Nagelsmann und der Deutsche Fußball-Bund, das Trainer-Wunderkind und der abgestürzte Verbandsfußball-Riese. Das klingt nach einer folgerichtigen Liaison. Zwei erfolgshungrige Parteien, die nun gemeinsam auf die Reise gehen. Mit 36 Jahren ist Nagelsmann zwar noch sehr jung, doch bereits reich an Erfahrung, schließlich hat er seinen ersten Bundesliga-Job mit 28 Jahren angetreten, ist der jüngste hauptamtliche Trainer der Geschichte des Fußball-Oberhauses.
Doch damit ist Nagelsmann längst auch kein unbeschriebenes Blatt mehr. Und seine jüngste Vergangenheit ist genau die, die beim DFB-Team zum Problem werden könnte. Sein Abgang beim FC Bayern war äußerst unrühmlich - eben jener Klub stellt aber traditionell eine wichtige Achse in der Auswahl des DFB. Im März wurde er zum ersten Mal in seiner Trainer-Karriere entlassen, zuvor hatte er die TSG Hoffenheim und RB Leipzig verlassen, um neue, bessere Positionen anzutreten. Im März drohte der FC Bayern die Meisterschaft zu verspielen, die Bayern-Bosse zogen die Reißleine.
Spieler wie Joshua Kimmich und Leon Goretzka zeigten sich tief getroffen von der Entlassung, doch die Berichte, er habe "die Kabine verloren" zeigen das Konfliktpotenzial. Bayern-Legende Thomas Müller hatte er fast nur noch auf der Bank sitzen lassen, zuletzt war er - noch von Hansi Flick - wieder fürs DFB-Team nominiert worden. Schon unter Interimstrainer Rudi Völler hatte er gegen Frankreich für die frühe 1:0-Führung gesorgt und sowohl das Team als auch die Fans in Dortmund emotional mitgerissen.
Nagelsmann: Verhärtete Fronten mit Neuer
Schonfrist wird Nagelsmann noch bei der Personalie Manuel Neuer haben, der Torhüter wird für die Spiele bei der USA-Reise am 14. Oktober gegen die USA (21 Uhr/RTL und im sport.de-Liveticker) und vier Tage später gegen Mexiko weiterhin keine Rolle spielen. Doch auch die beiden haben eine belastete Vergangenheit, nach Neuers Beinbruch beim Skitouren-Gehen ließ Nagelsmann Torwarttrainer und eben Neuer-Vertrauten Toni Tapalovic wegen mangelnder Loyalität und angeblich ausgeplauderter Interna rauswerfen. Neuer schlug in einem Interview mit der "Süddeutsche Zeitung" zurück, die Fronten sind klar.
All dies betrifft einzelne Spieler, doch bekanntlich kann nur ein vereintes Team gute Leistung bringen. Was von einer Menge hochbegabter Einzelspieler zu erwarten ist, die nicht perfekt zusammenarbeiten, war zuletzt unter Flick eindrücklich zu sehen. Doch gerade jetzt, wo es um nicht weniger als die Rettung des deutschen Fußballs geht, die Heim-EM, die das Land im Glanze blühen lassen soll, ist eine Einheit vonnöten.
Ist Fußball-Nerd Nagelsmann zu viel für die Nationalelf?
Zudem belegten die Aussagen der Spieler nach dem Völler-Erfolg gegen Frankreich, dass das Team nicht überfrachtet werden darf mit komplexen Spielideen und immer neuen taktischen Finessen. Völler setzte gemeinsam mit seinen Co-Trainern Hannes Wolf und Sandro Wagner auf Klarheit, auf simple Strukturen, Emotionalität und Spaß am Spiel. Torhüter Marc-André ter Stegen sagte: "Wir wollten vor allem eine Struktur haben, die relativ einfach ist." Weitere Spieler äußerten sich in ähnlicher Weise. Nagelsmann dagegen ist bekannt als Nerd, als einer, der die Komplexität des Fußballs mag und nichts dem Zufall überlassen möchte. Als mitreißender Einpeitscher neben dem Feld hat er sich bislang nicht ausgezeichnet.
Letztlich wird es ein Experiment auf Zeit: Neun Monate hat Nagelsmann Zeit, nicht viel für einen Trainer, der sein Team nur alle paar Wochen mal zusammenbekommt. In diesen neun Monaten wird sich zeigen, ob das sich das Risiko lohnt oder ob der DFB und Nagelsmann gemeinsam scheitern.
Anja Rau