Nach der neunten Saisonniederlage steckt Hertha BSC weiterhin tief im Abstiegssumpf der Bundesliga fest. Tabellenplatz 17 scheint derzeit zementiert, die desolate Leistung beim 0:5 gegen den VfL Wolfsburg bedeutete den nächsten Tiefpunkt der laufenden Spielzeit. Dem schlafenden Riesen, wie der Hauptstadtklub bereits seit Jahrzehnten tituliert wird, droht der dritte Abstieg seit 2010. Wird er überhaupt noch einmal erwachen?
Die Metapher des schlafenden Riesen existiert in Bezug auf Hertha BSC schon seit 25 Jahren. Seit der Bundesliga-Rückkehr 1997 galt die Alte Dame als Traditionsverein mit großem Potenzial und enormer Strahlkraft, welche nur darauf warteten, ausgeschöpft zu werden.
In den ersten Jahren nach dem Aufstieg gelang das den Berlinern dann auch. Gleich mehrmals gehörte Hertha BSC zu den Top Fünf in der Bundesliga und zelebrierte unter dem damaligen Cheftrainer Jürgen Röber sogar Europapokal-Abende in der Champions League. Selbst der große FC Barcelona kam zur Jahrtausendwende im Olympiastadion nicht über eine 1:1-Punkteteilung hinaus.
Die Berliner waren zu dieser Zeit derart selbstbewusst, dass sogar der deutsche Rekordmeister FC Bayern vom damaligen Manager Dieter Hoeneß offen ins Visier genommen wurde: "Du muss ja irgendwann anfangen, in diese Richtung zu denken", so der damalige Hertha-Macher.
Und sein Bruder Uli legte sich voller Hochachtung fest: "Wenn uns in der Bundesliga langfristig einer gefährlich werden kann, dann ist das Hertha BSC."
Aussagen, die ein Jahrzehnt später wie aus einer anderen Zeit anmuten. Spätestens seit dem desaströsen Absturz in der Saison 2009/2010, als die Hertha als Europapokal-Teilnehmer nur historisch schlechte sechs Punkte in der Hinrunde sammelte, zerplatzte der Traum von einem echten Schwergewicht auf der Fußball-Landkarte in Deutschland.
Nach den Abstiegen 2010 und 2012 schaffte Hertha zwar jeweils die direkte Rückkehr in die Bundesliga. Richtig aufgewacht ist der schlafende Riese seitdem aber nicht mehr.
Zum letzten Mal bediente sich im Herbst 2019 ein gewisser Jürgen Klinsmann diesem Sprachbild, als er bei seiner Vorstellungs-PK neben Michael Preetz sitzend meinte: "In Berlin besteht schon seit Jahren die Hoffnung. Berlin wartet auf etwas Großes und hat das Potenzial. Berlin ist ein schlafender Riese." Welche Halbwertszeit die Aussagen des einstigen Hoffnungsträgers in der Hauptstadt haben sollten, ist bekannt.
Die Geschichte vom Riesen aus Berlin ist spätestens seit dem Klinsmann-Intermezzo zu einer Legende, zu einem Märchen verkommen. Das fußballerische Zepter in der Hauptstadt hat längst der Nachbar aus Köpenick übernommen.
Der 1. FC Union Berlin hat nicht nur die letzten vier Berliner Stadtderbys allesamt gewonnen (dreimal Bundesliga, einmal DFB-Pokal). Die Eisernen schicken sich zudem an, dort zu landen, wo sich Hertha BSC selbst jahrelang wähnte: An den großen Fleischtöpfen des europäischen Vereinsfußballs in der Champions League.
Nach den Plätzen zehn, 14 und 16 in den letzten Jahren geht es in der laufenden Saison einzig und allein darum, den sportlichen Totalabsturz in die Zweitklassigkeit irgendwie noch abwenden zu können.
Dass das auf sportlichem Wege noch gelingen wird, daran glauben aktuell im Klub wohl noch kühne Optimisten. Zu einfallslos und vor allem zu lethargisch muteten die jüngsten Auftritte der Elf von Cheftrainer Sandro Schwarz gegen den VfL Bochum (1:3) und den VfL Wolfsburg an (0:5).
Beides Kontrahenten, die selbst mit großen Schwierigkeiten in die Saison starteten, sich zuletzt über die viel zitierten Tugenden Kampfgeist, mannschaftliche Geschlossenheit und Mentalität aus dem Tief kämpften.
Das echte Ausmaß des wirtschaftlichen Fiaskos der letzten Jahre ist dabei noch gar nicht richtig absehbar. Nach dem Rückzug der Tenor Holding um Investor Lars Windhorst steht Hertha BSC nach derzeitigem Stand noch ohne neuen großen Geldgeber da.
In den letzten drei Jahren hatte Lars Windhorst 374 Millionen Euro in den Verein gesteckt. Nachdem sich seine Vision, die Hertha als "Big City Club" wieder auf der europäischen Fußball-Landkarte zu platzieren, als großes Luftschloss entpuppte, fliegen den Berlinern diese Ausgaben um die Ohren.
Schon 2022 überstiegen die Verbindlichkeiten erstmals wieder das Eigenkapital bei den Berlinern.
Sportvorstand Fredi Bobic ist seit seinem Amtsantritt vor eineinhalb Jahren hauptsächlich damit beschäftigt, die zuvor vollkommen in sportliche und finanzielle Schieflage geratene Lizenzspielerabteilung irgendwie wieder auf gesunde Füße zu stellen.
Spieler mussten bereits zuhauf verkauft werden, häufig als Verlustgeschäfte. Qualitativ hochwertige Neuzugänge, die einen nachhaltigen sportlichen Mehrwert für den Profi-Kader darstellen, blieben seither praktisch völlig aus.
Sollten der sportliche Turnaround mit dem verbundenen Klassenerhalt bis zum Sommer nicht mehr gelingen, bricht die Einnahmenseite des Klubs nur noch weiter ein. Es droht eine Abwärtsspirale, deren Ende sich im Frühjahr 2023 noch nicht prognostizieren lässt.
Der schlafende Riese aus dem blau-weißen Teil der Hauptstadt ist wohl endgültig zu einer Legende geworden.
Mats-Yannick Roth